Die Schweizer Autorin Michèle Minelli kommt mit der Rohfassung ihres Romans – es ist ein Jugendroman – an die KSK und besucht die 25Ma und die 26Ma. Im Austausch über Charaktere, Konstellationen und Sprache bringen die Schülerinnen und Schüler der Kanti Kreuzlingen ihre Ideen ein und stellen ihre ganz eigene Leseart der Figuren vor. Wo funktioniert eine Figur, wo nicht und warum ist das so? An welchen Stellen gibt es ungeklärte Fragen und wie könnten sie gelöst werden? Ein literarischer Austausch, wie ihn Schülerinnen und Schüler nicht alltäglich erleben.
Carina Lukosch
In der Klasse herrscht eine kaum greifbare Atmosphäre, Unsicherheit gepaart mit Stolz, Neugierde gepaart mit Aufregung. Immerhin steht vor den Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern eine echte Autorin und vor ihr sollen sie ihre eigenen Texte vortragen, sollen erklären, was sie an der von ihnen behandelten Figur noch nicht ganz rund finden. Das braucht Mut, ja; «es ist aber auch cool», meint Krystof bei all der Aufregung, «an so einem Roman mitzuarbeiten», denn so haben Schülerinnen und Schüler Literatur wohl noch nicht erlebt. Kein einheitliches Schwarz, sondern Einschübe in Pink. Kein durchgängiger Fliesstext, sondern Hinweise hier und da. «Eine Rohfassung ist der erste Entwurf eines Textes. Er ist weder korrigiert noch besonders schön formuliert; er ist ‘roh’. Er hat Stellen, die noch zu lang sind und die sicher gekürzt und andere Stellen, die noch genauer beschrieben werden müssen», erklärt Minelli. Ein Roman ist Handwerk. «Zwei der Figuren begleiten mich seit zehn Jahren», beschreibt sie, als sie auf den intensiven Entwicklungsprozess ihres neuen Romans eingeht und meint, «ein Besuch bei euch in der Klasse ist wie Urlaub». Ende Oktober reicht sie ein, langweilig wird es ihr bis dahin sicher nicht.
Auch Kritik nimmt die Autorin an
Die Klasse und Michèle Minelli sind alte Bekannte, sie kennen sich aus einer szenischen Lesung im vergangenen Semester, in deren Anschluss die Klasse sich weitere literarische Projekte im Klassenzimmer gewünscht hat. Konnten sie sich bei der Lesung grösstenteils berieseln lassen, sind die Jugendlichen dieses Mal inhaltlich auch selbst gefordert. Der neue Jugendroman von Michèle Minelli, dessenTitel noch nicht endgültig feststeht, ist als Rondo mit vierzehn Charakteren angelegt. Jede Figur bekommt ein Kapitel. In Kleingruppen hat die Klasse vier Figuren näher angeschaut, vorgestellt und Unklarheiten aufgedeckt.
Minelli ist an eine kritische Gruppe geraten und nimmt Efes Einschätzung, «die Figur ist faul, funktioniert so nicht» ebenso gerne an wie die gewagte These, «ich sehe das als Ausrede, damit Sie sein Ende nicht schreiben müssen». Doch mit blosser Kritik ist es nicht getan, Minelli lässt nicht locker: «Was würdet ihr der Figur raten?» Die Klasse ist gefragt, sammelt Ideen, kommt auf keinen gemeinsamen Nenner. So ein Roman hat es in sich. «Eishockeytrainer, Mann, er wird Eishockeytrainer», sind sich Maurus und Damian sicher, als sie auf dem Weg in die nächste Unterrichtsstunde noch immer überlegen.
Begeistert von der Arbeit der Klassen
Minelli schreibt mit, fragt grinsend nach der Kontonummer einiger Schülerinnen und Schüler, von denen sie Ideen oder Formulierungen stibitzen möchte. «Morgen und übermorgen arbeite ich eure Anmerkungen ein» freut sie sich. Die Autorin ist von der literarischen Arbeit der Klasse angetan und von den Plakaten, die die Gruppen zur Vorstellung ihrer jeweiligen Figur gezeichnet haben, begeistert. Sofort habe sie Blerta Cara erkannt; dieses Gesicht, genauso sehe sie für Minelli aus. Die Plakate werden also wohl nach einer gewissen Ausstellungszeit im Klassenzimmer ihren Aufhängeort wechseln.
Von der anfänglichen Atmosphäre angespannter Stille ist am Ende nichts mehr übrig, geschwätzig wird zusammengepackt und weitere Ideen für die Charaktere werden ausgetauscht.