10. Dezember 2023

Gedanken zur Zeit

Am 10. Dezember ist Zeit ein grosses Thema. Der Stresspegel ist hoch und ein Ende ist noch nicht unmittelbar absehbar – und trotzdem ist die Zeit bis Weihnachten bereits knapp. Am Bahnhof St. Gallen offenbart der Blick auf die Zeit eine Wahl: Die Wahl zwischen der Antwort auf die Frage «Welche Uhrzeit haben wir genau jetzt?» und einer Auseinandersetzung mit der Zeit. Die Lichtinstallation des St. Galler Künstlers Norbert Möslang kann nur von Wenigen im Vorbeilaufen abgelesen werden. Es handelt sich um eine binäre Uhr, die auf dem dualen Zahlensystem basiert, das in allen digitalen Systemen Anwendung findet.

Die erste Zeile gibt die Stunden an, die zweite die Minuten und die dritte die Sekunden. Um die aktuelle Uhrzeit zu bestimmen, müssen die leuchtenden Symbole, addiert werden. Die Symbole stellen Zweierpotenzen dar, also von rechts nach links die Zahlen 1, 2, 4, 8, 16 und 32. Leuchten in der ersten Zeile also das erste, das zweite und das vierte Symbol von rechts, dann sind seit Mitternacht 1 + 2 + 16 = 19 Stunden verstrichen. Sind in der zweiten Zeile das erste, das dritte und das sechste Symbol von rechts beleuchtet, so sind seit der letzten vollen Stunde 1 + 4 + 32 = 37 Minuten verstrichen. Die Uhrzeit ist also 19:37 Uhr. Für die laufende Minute können die verstrichenen Sekunden analog berechnet werden.

Um die Uhrzeit zu lesen, müssen wir bei dieser Uhr, die gleichzeitig ein Kunstwerk ist, Zeit investieren. Das bedeutet eine Entschleunigung im oft gestressten Gang, vielleicht gar Spurt, zur nächsten Verbindung, die einen ans nächste Zwischenziel bringt. Ist dieses das Zuhause, finden wir vielleicht dort etwas Zeit, hoffen wir. Das Finden solch wertvoller Zeit ist ein Grundgedanke des Advents. Die Adventszeit ist, wie der Tag selbst, in 24 Abschnitte gleicher Länge eingeteilt. Mit jedem vollendeten Abschnitt steigen unsere Vorfreude und unser Wunsch nach Besinnlichkeit, nach Zeit für uns und unsere Liebsten. Der Advent – lateinisch «die Ankunft» – geht also mit einem starken Wunsch nach Zeit einher.

 

Das Konzept der Zeit, gemeinhin klar auf Basis von Sekunden, Minuten, Stunden, Monaten und Jahren definiert, ist bei genauerem Nachdenken keine so eindeutige Sache. Wir alle kennen das Gefühl, die Zeit schleiche, wenn wir gelangweilt jede Minute auf die Uhr schauen, nur um festzustellen, dass statt der gefühlten zwanzig Minuten gerade mal sechzig Sekunden vergangen sind. Umgekehrt können in schönen Momenten die Stunden wie Sekunden vergehen. Dieses Phänomen illustriert der Chronophag, also der Zeitfresser, in der englischen Universitätsstadt Cambridge.

Bild: Irwin Reynolds

Die Uhr mit 1.5 Metern Durchmesser schuf John C. Taylor. Sie zeigt die Zeit nicht nur unkonventionell, sondern meist auch ungenau an. Sie stimmt nur alle fünf Minuten exakt, dazwischen «frisst» die Heuschrecke oben an der Uhr die Zeit mal langsamer, mal schneller. Dies ist angelehnt an das Konzept von relativer Zeit in Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie, in der die Zeit davon abhängig ist, wie schnell man sich – im Verhältnis zu anderen – bewegt.

 

Die eher furchteinflössend gestaltete Heuschrecke, welche die verstrichene Zeit frisst, soll zudem daran erinnern, dass die abgelaufene Zeit unwiederbringlich verloren ist. Dieser Eindruck ist in der Adventszeit oft präsent. Unsere Agenda ist übervoll. Nicht nur Sitzungen, im Schulkontext Prüfungen oder auch Geschenkeinkäufe limitieren die Freizeit, der Tag wird auch – zumindest bis zum 21. Dezember – immer kürzer. Schaffen wir es noch, rechtzeitig vor Weihnachten alles vorzubereiten und zur Ruhe zu finden?

Die Zeit läuft uns davon. So drücken wir es oft aus. Stellen uns das Leben als Rennen zwischen uns selbst und einem Wesen – vielleicht dem Chronophagen – vor, das aber tatsächlich unsere eigene Kreation ist. Unsere Zeitmessung und damit auch die Vorgaben, die Stunden- und Fahrpläne sowie Kalender dominieren, sind eine Möglichkeit, den von der Himmelsmechanik vorgegebenen Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter fassbar und strukturierbar zu machen. Planbar. Dies hat allerdings den Nebeneffekt, dass wir oft verplant sind und «keine Zeit» haben, gerade auch im Advent, wenn wir mit dieser Begründung Einladungen ausschlagen, auf das Schlendern durch den Weihnachtsmarkt oder das Spiel am Familientisch verzichten. Genau genommen ist allerdings die Aussage, wir hätten «keine Zeit», falsch. Die Zeit, die vierte Dimension, ist schliesslich immer da. Wir sind in ihr drin, bewegen uns im Alltag trotz der Relativität der Zeit stets annähernd mit Lichtgeschwindigkeit durch sie durch, ob wir nun rennen oder nicht.

 

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun etwas Zeit dafür aufgewendet haben, irgendwo ruhig sitzend den Gedanken dieses Textes zu folgen, haben Sie also im Vergleich dazu, wenn Sie durchs Vorweihnachtsgetümmel gehetzt wären, nicht wirklich Zeit verloren. Sie haben vielleicht sogar welche gewonnen, denn die Zeit, die wir im Stress oder bei der Arbeit verbringen, ist nicht die, nach der wir im Advent suchen. Wir suchen das Gefühl, Zeit frei verbringen zu können, mehr als genug Zeit für das zu haben, was wir am liebsten tun möchten. Eine der schönsten Aktivitäten seit unserer Kindheit ist wohl im Advent das Öffnen der Türchen im Adventskalender. Und so hoffen wir, dass Sie mit der Lektüre dieses 10. Türchens etwas Wertvolles gefunden haben. Zeit.

 

von Corina Tobler und Lukas Ruosch