Von «Flagge zeigen» bis «Farbe bekennen»: Flaggen und Farben sind den Menschen offensichtlich in Sprache und gelebtem Alltag wichtig. Die bunteste aller Fahnen ziert ab Juni (Pride Month) das A-Gebäude. Warum?
Marcello Indino
Als Ende Februar der Krieg in der Ukraine ausgebrochen war, fühlten wir uns vermutlich alle hilf- und machtlos. Ein kaum denkbares Szenario war eingetroffen – Millionen Menschen wurden in die Flucht geschlagen und weite Teile eines europäischen Landes stehen seither in Flammen. Unserem Gefühl der Ohnmacht haben wir an der KSK mit einer weissen Fahne Ausdruck verliehen, die mehrere Monate an unserem Hauptgebäude wehte. Wir haben sie nicht als Symbol der Kapitulation verstanden, sondern als Zeichen für den Frieden.
Kriege erzeugen Opfer auf beiden Seiten der Front – auch wenn der Aggressor gerade in diesem Krieg unbestritten ist. Zivilisten leiden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und den Absichten ihrer Regierung. Unsere weisse Fahne sollte ein Zeichen der Solidarität für all jene setzen, die Menschen nicht in den Krieg ziehen sehen wollen. Unabhängig davon, auf welcher Seite der Front sie geboren und aufgewachsen sind.
Von Stonewall Inn zum Pride June
Im Juni wird gewissermassen der optische Kontrapunkt zur weissen Fahne unser Hauptgebäude zieren – die Progress-Pride-Fahne. Sie steht in vielen Kulturen und unabhängig von politischer Couleur für Veränderung, Aufbruch, Toleranz und Akzeptanz für Lebensentwürfe, die noch nicht normiert oder tradiert sind. Kurz, die Regenbogenfahne ist, nicht viel anders als unsere weisse Fahne, ein Zeichen für gesellschaftlichen Frieden.
Dass gerade im Juni die Regenbogenfahne besonders oft und an den verschiedensten Orten zu sehen ist, hat historische Gründe: Am 28. Juni 1969 führten Beamte der New Yorker Polizei eine Razzia im «Stonewall Inn» durch, einer Bar mit homosexuellem und transidentem Zielpublikum in der Christopher Street im Greenwich Village. Der Einsatz verlief sehr gewalttätig, viele der Betroffenen widersetzten sich aber der Verhaftung und standen damit für sich und ihre Community ein. Der «Pride June» ist also in vielen Teilen der Welt eine Zeit der Feier und nicht der Trauer.
Von Thomas Müntzer zu Gilber Baker
Zeichen und Symbole verändern sich laufend und ihre Rezeption hängt vom Kontext ab, in dem sie verwendet werden. Dasselbe gilt für die Regenbogenfahne, die in der Horizontalen acht, sieben und später nur noch sechs verschiedenfarbige Streifen zeigte, wobei deren Anordnung bis heute nicht einheitlich ist.
All ihren Verwendungen, egal ob durch den Reformator Thomas Müntzer zur Zeit der Bauernkriege 1525 oder durch die LGBT-Gemeinschaft im Zuge der Flower-Power-Bewegung der 1960er-Jahre, haben den selben Bedeutungskern: Die Regenbogenfahne ist ein Zeichen der Verbundenheit – sei es Verbundenheit der Menschen zu Gott oder der Menschen untereinander.
Als geistiger Vater der modernen Regenbogenfahne (Progress-Pride-Fahne) gilt der Künstler Gilbert Baker (1951-2017), der 1978 eine erste Variante für den Gay Freedom Day entwarf. Er fand das Muster besonders geeignet, um die bestehenden Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe, Interessen und Lebensentwürfen sowohl wiederzugeben als auch zusammenzubringen – und gerade damit die LGBT-Szene (Lesbian/Gay/Bisexual/Transgender) zu repräsentieren.
Wie bereits angesprochen wurde, bestand die Fahne ursprünglich aus acht Streifen. Jedoch liess sich das grelle Pink, das als Symbol für die Sexualität stehen sollte, industriell noch nicht herstellen. So blieb es bei sieben Streifen mit Rot als Symbol für die Liebe, Orange für die Gesundheit, Gelb für das Sonnenlicht, Grün für die Natur, Hellblau für die Kunst, Königsblau für die Harmonie und Violett für den Geist. Später fiel der hellblaue Streifen Symmetriegründen zum Opfer; gewünscht wurde eine gerade Anzahl Streifen. Paradoxerweise waren es gerade vermeintlich ästhetische Gründe, die der Kunst den Garaus machten.
Progress Pride – Mehr als nur ein Regenbogen
Die Fahne, die an der Kantonsschule Kreuzlingen zu sehen ist, beschränkt sich aber nicht auf sechs horizontale Streifen, sondern zeigt auf ihrer linken Seite zusätzlich die Farben Weiss, Pink, Hellblau, Braun und Schwarz, die als Winkel angeordnet sind und damit eine Vorwärtsbewegung symbolisieren.
Darin stehen Schwarz und Braun für Hautfarben, wobei Schwarz ebenso an die an AIDS leidenden und bereits verstorbenen Menschen erinnern soll. Pink und Hellblau haben nun also doch wieder ihren Platz auf der Fahne gefunden und stehen, wie ursprünglich angedacht, für Sexualität und Kunst. Der weisse Streifen ist ein Denkanstoss zugunsten einer Gesellschaft ohne normative Geschlechtszuteilungen.
Als zusätzliches Symbol der Inklusion der Intersex-Gemeinschaften umfasst die Fahne eine gelbe Fläche mit lila Kreis. Gelb und Lila sollen sich bewusst von den binären Farben Blau und Pink abheben. Der Kreis symbolisiert das Ganzsein, das Ungebrochene und soll darauf hinweisen, dass alle Menschen das Recht auf eigene Entscheidungen und den eigenen Körper haben. Entworfen und damit die aktuelle Pride Fahne ergänzt hat den farbigen Winkel 2017 der nichtbinäre Grafikdesigner Daniel Quasar.
Gesellschaft und Fahne im Wandel
In den vergangenen Jahren gab es einen gesellschaftlichen Wandel im Hinblick auf die geschlechtliche Zuordnung von Menschen. Neben der bisher üblichen Einteilung in zwei Geschlechter nach körperlich eindeutig bestimmbaren Merkmalen sind nun auch andere Identitäten definierbar. Diese können sowohl körperlicher als auch psychischer oder sozialer Art sein. Fliessende Übergänge, Doppelidentitäten oder nicht eindeutige sowie asexuelle Zuordnungen fallen alle unter den Begriff «transgender». Die Symbolik der Progress-Pride-Fahne soll dies alles in sich vereinen. Die Fahne ist daher, als Metapher für den gesellschaftlichen Wandel, ebenso in steter Veränderung begriffen. Wie auch immer sie sich weiterentwickeln wird – sie soll jetzt schon zum Denken anregen und zum Dialog animieren.
Dass unsere Wahrnehmung zur Konstruktion von neuen Begriffen führt, wird kaum umstritten sein, denn Beobachtungen und Empfindungen suchen danach, benannt zu werden. Dinge, Phänomene, Handlungen und Gefühle sind bedeutungstragende und begriffsevozierende Entitäten. Umgekehrt wird kaum von der Hand zu weisen sein, dass Begriffe mehr als nur sprachliche Werkzeuge sind – vielmehr initiieren sie Denk- und somit Handlungsweisen. Bleiben wir beim Thema Farben, um hierfür Beispiele zu liefern…
Von Gwyrdd, Glas und Llwyd
Die deutsche Sprache kannte bis zum 17. Jahrhundert keinen Begriff, der die Mischung der Farben Rot und Blau ausdrückte. Violett entstand, als Begriff, erst damals. Offensichtlich ermöglichte dies einerseits differenziertere Beschreibungen der eigenen Umwelt als zuvor. Plausibel ist aber auch, dass dieser neue Begriff andererseits auch neue Denk- und Wahrnehmungsmuster auslöste. Die Welt wird gedanklich anders rezipiert, wenn sie begrifflich nicht nur Rot oder Blau, sondern Rot, Blau oder Violett erscheint.
Dass die Wahrnehmung der eigenen Umwelt – und somit auch die Interaktion mit ihr – eine andere sein muss, je nachdem, welche Begriffe wir für ihre Kategorisierung zur Verfügung haben, zeigt auch folgender Sprachvergleich im Bereich der Farbbenennung:
Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen den Farben Grün, Blau, Grau und Braun. Auf Kymrisch, der auf der britischen Halbinsel Wales gesprochenen Sprache, kennt man für diese vier Farben hingegen nur drei Begriffe: «gwyrdd» umschreibt das Farbspektrum, das sich vom Grünen ins Blaue bewegt, «glas» das Spektrum, das sich vom Blauen ins Graue bewegt und «llwyd» wiederum das Spektrum, das sich vom Grauen ins Braune bewegt.
Zumindest für mich, offen gestanden, ist dies eine kaum vorstellbare Einteilung, die aber nicht besser oder schlechter sein muss als jene, die mir geläufig ist. Fest steht aber, dass die Umwelt ganz anders wahrgenommen wird, je nachdem wie Farben benannt und kategorisiert werden. Bei der Wahrnehmung von Menschen und Lebensweisen wird dies kaum anders sein – ich sehe daher keinen Grund, Grenzen zu setzen und Buntes auf Kosten von Toleranz, Offenheit und Interesse aus unseren Denkmustern verbannen zu wollen. Nach einer gänzlich weissen Fahne kann die bunteste aller Fahnen schon mal ein guter Anfang sein.
Reaktionen: Meinungsvielfalt zur Flagge
Seit Anfang Juni ziert nun die Progess-Pride-Flagge das A-Gebäude der KSK. Sie steht für Vielfalt und Toleranz. Seither haben sich die Lehrpersonen Eva Büchi und Claudio Wechsler umgehört: Welche Ansichten dazu gibt es in der Schülerschaft? Sind sie so vielfältig wie die Flagge selbst?
«Ich weiss nicht genau, wofür die Flagge steht. Ist es die Flagge der KSK? Sie sieht auf jeden Fall nicht schlecht aus, sehr bunt. Hat sie die Schule aufgehängt für die Maturanden?»
Christoph Ribi, 3Mz
«Ich habe von Herrn Indino gelesen, dass wir die Community von LGBTQI+Menschen unterstützen, ich bin da eigentlich weder dagegen noch dafür. Schwarz steht wohl für die Black-Lives-Matter-Bewegung, weiss für Frieden.»
Leonard Lansel, 3Mz
«Gerade an einer Schule, wo verschiedenste Schüler*innen zusammenkommen ist es schön zu sehen, dass alle akzeptiert werden. Es ist toll zu sehen, wie schön bunt die Welt und auch diese Schule ist. Auf einen feierlichen Monat und viel Gemeinschaft!»
Leona Roth, 3Md
«Im KSK-Blog habe ich über die Flagge gelesen. Die Regenbogenfahne hätte es auch getan, die vielen Symbole der Flaggen sind übertrieben. Mir scheint, dass es wichtigere Themen gibt, auf die wir aufmerksam machen sollten, etwa auf die Anti-Waffen-Bewegung in den USA oder auf Black Lives Matter. »
Simon Koch, 3Mb
«Ich habe im Blog über die Flagge gelesen und wir haben im Klassenchat darüber kontrovers debattiert. Die Mehrheit fand die Flagge gut – besser als die weisse Flagge, deren Message unklar ist. Unsere Schule zeigt mit der Pride-Fahne, dass wir hier über das Thema reden, Menschen der LGBTIQ Community akzeptieren und uns für eine Gleichberechtigung einsetzen.»
Ruben Eberhard, 3Mb
«Es handelt sich hier um die LGBTQ-Flagge und ich sehe auch die Farben Rosa, Blau und Weiss für Trans-Personen. Wofür Braun und Schwarz stehen, weiss ich jetzt gerade nicht. Ich finde gut, dass die Schule damit zeigt, dass LGBTQ-Personen toleriert werden. Und es ist für mich auch ein Symbol für den Frieden.»
Stefanie Vogt, 25Mz
«Die Flagge der LGBTQ-Community kann man jetzt im Pride-Monat überall sehen, da viele Unternehmen und Institutionen ihre Logos mit den Regenbogenfarben schmücken. Und auch die KSK zeigt so, dass sie nichts gegen die Leute aus der Community hat.»
Lukas Knott, 25Mz
LGBT für mich völlig unnötig. Wieder eine Möglichkeit für eine Selbstdarstellunhmg.