Seit vielen Jahren organisieren die Italienischlehrpersonen Monica Marotta von der KSK und Xenia Hönig von der PMS gemeinsam den Austausch zwischen den beiden Kreuzlinger Mittelschulen und dem Liceo Polivalente Don Quirico Punzi aus dem apulischen Cisternino. Die Deutschschülerinnen und -schüler aus Italien verbringen jeweils eine Woche bei uns in Kreuzlingen, danach werden sie von den Italienischschülerinnen und -schüler der KSK und der PMS in Cisternino besucht.
Marcello Indino
Als ich in der letzten Woche vor den Sommerferien zusammen mit Brigitte Pallmann, der Rektorin der PMS, die Schülerinnen und Schüler aus Süditalien bei uns auf dem Campus Bildung Kreuzlingen begrüssen durfte, habe ich ihnen eine kleine Geschichte erzählt. Sie handelt von Ein- beziehungsweise Auswanderung, weil sich unsere Gäste aus Süditalien zusammen mit den Schülerinnen und Schüler der KSK und der PMS während der diesjährigen gegenseitigen Besuche mit dem Thema Migration beschäftigt haben. Meine Geschichte könnte von vielen jener Menschen erzählt worden sein, die ihr Land verlassen haben, um sich woanders eine neue Zukunft aufzubauen.
Sonntags, Hbf. Zürich, Gleis 5
Sie könnte etwa von jenem gutgekleideten Herrn erzählt worden sein, der auf einem Schwarz-Weiss-Foto aus den 1970er-Jahren zu sehen ist, das ich vor vielen Jahren im Rahmen einer Ausstellung zum Thema Migration im Zürcher Helmhaus entdeckt habe. Der Mann steht, umgeben von anderen Männern im ähnlichen Alter, in der Halle des Hauptbahnhofes Zürich. Offenbar, so entnimmt man der Bildlegende, trifft er sich jeden Sonntagmorgen mit seinen Freunden am selben Gleis. Sie treffen sich dort, ohne jemals einen Zug zu besteigen, bloss um sich zu unterhalten. Vielleicht über die Kinder, das Wetter, die Arbeit. Vielleicht auch über Fussball – ganz sicher auch über Fussball.
Der Mann wurde gefragt, warum sie sich in der kalten Bahnhofshalle statt in einer geheizten Beiz treffen. «Weil wir hier, an den Gleisen, der Heimat am nächsten sind.» Aber zurück zur ursprünglichen Geschichte, vielleicht erzählt von jenem gutgekleideten Herrn in der Zürcher Bahnhofshalle …
Gemeinsam dort, gemeinsam hier
Im Jahr 1970 erreichte der Ausländeranteil in der Schweiz 17%, was rund einer Million Menschen entsprach. Davon stammten mehr als die Hälfte, nämlich 54%, aus Italien. Die meisten von Ihnen waren aus den finanziell benachteiligten, südlichen Regionen der Halbinsel in die Schweiz ausgewandert; aus Apulien, Kalabrien, Kampanien oder Sizilien. Noch heute dürfen diese Regionen am wenigsten zum Bruttoinnlandprodukt beitragen. Spannenderweise lebten (vor allem damals, teilweise aber noch heute) die Auswandererinnen und Auswanderer aus einem bestimmten süditalienischen Dorf auch in der Schweiz alle in derselben Ortschaft. In Kreuzlingen beispielsweise vor allem aus dem apulischen Cisternino. Oft arbeiteten sie sogar in derselben Fabrik. Meine Geschichte liefert hierzu einen ebenso einfachen, wie plausiblen Grund – und sollte dieser nicht wahr sein, hilft uns Giordano Brunos Aphorismus aus dem Jahr 1582 weiter: «Se non è vero, è ben trovato.» Der Aphorismus stammt aus Giordano Brunos Monographie De Umbris Idearum, die sich der Phänomenologie des Gedächtnisses widmet.
Gratis-Ticket – einfache Fahrt
Damals stellte sich ab und an ein Patron, ein Industrieller, ein Unternehmer aus der Schweiz inmitten irgendeiner Piazza irgendeines süditalienischen Dorfes und machte den Einwohnerinnen und Einwohner ein Angebot: «In einer Woche fährt von Lecce / von Reggio Calabria / von Caserta / von […] ein Zug Richtung Gotthard. Wer Arbeit in der Schweiz sucht, soll sich am Bahnhof einfinden. Es hat Platz für 40 Personen und 40 Koffer. Jene, die mitkommen werden, erhalten kostenfrei ein Billett – einfache Fahrt.»
Die Schülerinnen und Schüler aus Cisternino haben diese Reise ebenfalls auf sich genommen, mit wesentlichen Unterschieden: Monatelang haben sie sich mit ihren Lehrpersonen auf den Besuch in der Schweiz vorbereitet, um dann eine intensive und inspirierende Woche in und rund um Kreuzlingen verbringen zu dürfen. In meiner Geschichte hatten die Auswanderinnen und Auswanderer allerdings nicht eine Woche in der Schweiz vor sich, sondern eine Woche Zeit, um sich für ein komplett neues Leben in der Schweiz zu entscheiden. Jene, die sich darauf einliessen, hinterliessen Familie und Freunde, sie hinterliessen Gewohnheiten und Rituale. Sicherlich hinterliessen sie auch strukturelle Armut – zahlten dafür aber paradoxerweise einen hohen Preis.
Wellen am Strand
Das italienische Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre erreichte die italienische Halbinsel ähnlich wie eine jener unzähligen Wellen, die auf ihre Küsten treffen: Zu Beginn gräbt sie sich mit voller Wucht durch den Sand, doch irgendwann ebbt ihre Kraft ab und die Wogen ziehen sich zurück. Das miracolo economico italiano hat viele Regionen Italiens, von der Lombardei, über das Piemont bis hin zur Emilia-Romagna und der Toskana, voll erwischt. Für den Süden, den Mezzogiorno, hat ihre Kraft offenbar nicht gereicht.
An dieser Stelle soll aber kein wertender Blick in die Vergangenheit geworfen werden – vielmehr möchte ich mich über die Gegenwart erfreuen. Eine Gegenwart geprägt von gegenseitigem Kennenlernen, dem Abbau von Vorurteilen und Stereotypen, dem Entdecken von fremden und darum spannenden Gepflogenheiten. In diesem Sinne – «Benvenuti Cisternensi. Grazie per la visita, grazie per l’accoglienza! Ci rivedremo l’anno prossimo.»