Das unbestimmte Jemand, das Josef K. in Franz Kafkas Roman Der Prozess (1914/1915) verleumdet und den Prozess eines im Geheimen agierenden Gerichts initiiert haben muss, der letztlich zu seiner Hinrichtung führt – obwohl er wissentlich nichts Böses getan hat – könnte heute eine Künstliche Intelligenz gewesen sein. Ein möglicher Grund dafür könnte etwa eine unpräzise Gesichtserkennung oder ein fehlerhaft erstelltes Bild oder Dokument sein, um nur ein paar der unzähligen Möglichkeiten zu nennen, in denen KI ihren Einsatz findet.
Dr. phil. Marcello Indino
Unser Schuljahr 2024/25 wird mitunter von zwei Themen geprägt sein, die ich als eng verknüpft betrachte: Künstliche Intelligenz und unser neues pädagogisches Leitbild, das seit Monaten in einem partizipativen Prozess mit Schülerschaft und Kollegium am Entstehen ist und Ende des Herbstsemesters seine finale Form finden wird. Hierzu möchte ich nicht nur ein Beispiel eines sehr gelungen Schülerprojekts, sondern gerne ein paar Gedanken mit Ihnen teilen.
Vielleicht geht es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ähnlich: Mir erscheint es im Bereich künstlicher Intelligenz fast unmöglich, am Puls der Zeit zu bleiben, obwohl ich mich intensiv mit dem Thema auseinandersetze. Das kann gleichermassen Begeisterung für das Neue, Neuere und Neuste auslösen – aber auch Angst, etwas zu verpassen und nicht mehr «hinterherzukommen». Sowohl im Guten, das KI zweifellos mit sich bringt, wie aber auch im Schlechten. Die negative Kehrseite künstlicher Intelligenz ist die Verleumdung, um nochmals Franz Kafka aufzugreifen, nur in diesem Fall: der eigenen Kompetenzen und Potenziale. Künstliche Intelligenz ist nur dann ein Fortschritt, wenn sie die persönliche Entwicklung und individuelle Wissensanreicherung nicht behindert. Und wenn unsere Schülerinnen und Schüler weiterhin in der Lage sind, logisch zu denken und Probleme selbständig lösen zu können. Aber vor allem, wenn sie es schaffen, das kritisch zu betrachten, was die KI ihnen ausspuckt.
Wir als Schule stellen uns die Frage nicht, ob KI zum Einsatz kommen soll, sondern wann und in welchem Ausmass. Bedauerlicherweise wird es – zum Beispiel, wenn es um die Bewertung im Rahmen von Maturaprüfungen geht – notwendig sein, den falschen Einsatz von KI, mitunter mit technischen Mitteln, zu verunmöglichen. Hierbei suchen wir intensiv nach durchsetzungsfähigen Lösungen. Doch diese extrinsische Kontrolle wird kaum ausreichen – oder bleibt bestenfalls sogar sekundär. Intrinsische Motivation erscheint mir massgebender und zielführender zu sein:
KI war lange eine Utopie (mir ist klar, dass manche eher von einer Dystopie sprechen würden), die heute Realität geworden ist. Die Begeisterung, Neues zu lernen, Skills zu entwickeln, Zusammenhänge zu erkennen, Bewusstsein zu schärfen und Achtsamkeit zu stärken, mag ebenso utopisch klingen. Gerade in Zeiten, in denen eine KI förmlich danach ruft, zumindest ein Teil davon übernehmen zu können.
Ich sehe in einem tatsächlich unsere Schulkultur abbildenden, gelebten pädagogischen Leitbild eine immense Chance, den Möglichkeiten der digitalen Transformation zu begegnen – nicht zu entgegnen. Ein Leitbild, das sowohl den Lernprozess wie auch die Selbstentwicklung hervorhebt und sich nicht damit begnügt, alles auf das Resultat – ergo den Noten – zu reduzieren. KI hat das Resultat im Auge, Bildung ist aber ein Weg.
Ist es eine Utopie, dass Schülerinnen und Schüler – wie wir alle – den steilen Weg der Bildung gehen, statt die Abkürzung via KI zu wählen? Oder: dass sie lernen, die richtige Arbeit der KI zu überlassen und dann einen Sinn daraus zu generieren? Dass sie lernen, mit den Technologien umzugehen.
Vielleicht, ja. Vielleicht aber auch nicht! Mit einem pädagogischen Leitbild ist es nicht getan, das ist mir klar. Aber es ist auch schon nur deshalb ein guter Anfang, weil wir seine gemeinsame Ausgestaltung und alltägliche Umsetzung aktuell tatsächlich in der Hand haben.