Errare humanum est – warum Latein nicht tot ist

Errare humanum est – warum Latein nicht tot ist

Das Latinum als Voraussetzung für ein Studium existiert fast nirgends mehr. Das Schwerpunktfach Latein kommt vielerorts nicht mehr zustande. Ursula Hertlein, jahrzehntelang Lateinlehrerin an der KSK, ging per Anfang Semester in Pension. Die KSK hat jedoch sofort Ersatz angestellt: Mirjam Döpfert. Wieso?

Corina Tobler

Pyramus et Thisbe, juvenum pulcherrimus alter, altera quas oriens habuit praelata puellis … haben Sie etwas verstanden? Wenn nicht: Ovids Metamorphose «Pyramus und Thisbe», die Vorlage für Romeo und Julia, beginnt mit diesen Worten. Vermutlich haben Sie dafür die Sätze unter dem Titel problemlos verstanden. Wenn ja, dann haben Sie – ob bewusst oder nicht – zumindest indirekt Ihre Lateinkenntnisse für Wörter wie Studium, existiert oder Pension angewendet.

Mirjam Döpfert unterrichtet neu an der KSK Latein. (zVg)

Dies könnte Ihnen nicht nur Mirjam Döpfert erklären, die seit Februar an der KSK die Lateinfreikurse unterrichtet, sondern auch ihre Schülerinnen und Schüler, die mit grosser Begeisterung die vermeintlich tote Sprache erlernen. Die Motivation, sich die vielen Verbklassen und sechs Fälle bei Nomen und Adjektiven anzutun, ist ganz unterschiedlich. Nathan (28Mz) ist Italiener und sieht wie sein Klassenkamerad David Vorteile nicht nur fürs Erlernen anderer Sprachen, sondern auch für ein ganz anderes Verständnis gerade der italienischen Kultur. «Viele denken, Italien sei einfach warm und habe schöne Strände. Stimmt, aber nicht nur!» Dem pflichtet Mirjam Döpfert bei: «Die ganze italienische Kultur und auch unsere Gesellschaft ist so vom Latein durchdrungen, dass man enorm profitieren kann, wenn man Kenntnisse hat. Und eine Stadt wie Rom erlebt man mit Latein ganz anders als ohne.»

Tatsächlich verbringt der Freikurs der 28M-Klassen, den aktuell sechs Schülerinnen und Schüler belegen, die Zeit nicht nur mit dem Erlernen von Wortschatz und Grammatik für Übersetzungszwecke, sondern auch mit viel kulturellen Inhalten. Ben (28Mz) findet, es seien nicht mal unbedingt die bekannten Aspekte wie die Gladiatorenspiele, die ihn faszinierten: «Das alltägliche Leben der Römer ist spannender. Man lernt, Hintergründe zu verstehen.» Mirjam Döpfert nickt zustimmend. Sie ist sehr positiv davon beeindruckt, wie motiviert die Klasse auch am Freitagnachmittag ans Werk geht und erinnert sich dabei an ihre eigene Schulzeit. Sie lernte Latein nämlich selbst als Freikurs kennen.

Latein erhalten? «Unbedingt!»

«Beim Reinspringen in die Originaltexte habe ich mich in die Mythen verliebt. Da gibt es so viele Themen mit Alltagsbezug. Jupiter und Juno stolpern beispielsweise von einer Ehekrise in die nächste», sagt Döpfert schmunzelnd. Sie hatte bereits entschieden, Deutsch zu studieren und nahm dann aus Liebe zum Fach Latein dazu. «Ich dachte mir, ach, was soll’s. Ich hab ja ein sicheres Fach mit Deutsch. Latein ist so vielschichtig, schliesst Kultur, Philosophie, Politik mit ein und bildet in vielerlei Hinsicht die Basis für alles, was historisch in Mitteleuropa später kommt. Die Grundfragen, die aufgeworfen werden, sind auch heute noch aktuell.»

Die Passion springt offenkundig auch auf die Schülerinnen und Schüler über. Auf die Frage, ob man Latein als Schulfach an Kantonsschulen am Leben erhalten solle, kommt wie aus der Pistole geschossen ein lautstarkes «Unbedingt!». «Erstens ist es nützlich und ziemlich cool, eine neue Sprache zu lernen, die fast niemand kann. Zweitens wäre es schlimm, wenn niemand mehr Latein könnte und sich beispielsweise mit neuen archäologischen Funden auseinandersetzen könnte. Und überhaupt, Latein ist eine Bereicherung für die Seele», schliesst Kilian (28Mz) sein Votum energisch ab.

Pioniere mit Gegenwarts-Relevanz

Mirjam Döpfert lächelt und fügt mit Nachdruck an, Latein sei weit mehr als eine einst gesprochene Sprache. «Heute würde man sagen, man lernt mit Latein Soft Skills. Sprachverständnis gehört etwa dazu, da dank der klaren Grammatik im Latein eine ständige Reflexion des sprachlichen Aufbaus erfolgt. Doch auch dieses starke Gefühl im Alten Rom, man müsse sich als Individuum in die Geschichte einbringen und politische Verantwortung übernehmen – zumindest traf das auf die Männer zu – ist für heutige Demokratien unerlässlich», führt sie aus. Auch in Bezug auf den Umgang mit fremden Kulturen finde sich viel Hilfreiches in der Geschichte des Römischen Reichs. «Sie haben es oft geschafft, eine klar definierte eigene Identität zu haben und dennoch andere Kulturen zu integrieren; gerade weil eine solide Basis bestand. Diese ist eine Grundlage für Innovation.» Mirjam Döpfert sieht die Alten Römer und ihre Sprache also keinesfalls als veraltet oder gar tot, sondern als Pioniere mit, wie sie es ausdrückt, Literatur die wie Netflix für Texte sei, «ein All-You-Can-Eat-Buffet».

An diesem werden sie und ihre Freikursklassen sich weiterhin gütlich tun. Wie es Cicero einst in De Re Publica schrieb: «Mihi vero omne tempus est ad meos libros vacuum; numquam enim sunt illi occupati.» Sinngemäss: Ich habe stets alle Zeit für meine Bücher, sie sind nämlich nie beschäftigt.

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