Stellen Sie sich vor, mit wie vielen Items Ihr Avatar ausgestattet wäre, wenn Sie für jene Note, die Sie in Ihrer Kantizeit zurückerhalten haben, eine Lootbox öffnen dürften. Vermutlich würde jeder NPC schon nach zwei Semestern das Weite suchen…
Marcello Indino
Wie viele sogenannte Leistungsüberprüfungen haben Sie nach vier Jahren an der Kanti insgesamt abgelegt? Wie viele Vorträge gehalten, Klausuren geschrieben oder Projektarbeiten verfasst? Und wie oft haben Sie sich gefragt, wie die mündliche Note konkret zustande gekommen ist? Sprich, wie oft mussten Sie eigentlich – auch lange nach der Probezeit – beweisen, dass Sie definitiv zur Kantonsschule Kreuzlingen gehören und dass Sie danach zu nahezu jeder Hochschule der Welt zugelassen sein werden, um dort Ihren Bachelor – und bitte auch den Master – ablegen zu dürfen?
Vielleicht sind es jeweils so viele, dass manche von Ihnen zeitweilig die Übersicht verlieren. Jedenfalls staune ich zu Semesterende jeweils über nicht wenige Schülerinnen und Schüler, die den eigenen Notenschnitt der einzelnen Fächer nicht kennen – nicht mal, wenn es in Bezug auf die Promotion auf jede Viertelnote ankommt. Man darf diesen Umstand von seiner positiven Seite betrachten: Schön, dass sich bei uns offenbar doch nicht alles um Noten zu drehen scheint.
Kalkül auf der Zielgerade
Anders empfinden es vermutlich die Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen, die in wenigen Monaten ihre allerletzten Prüfungen bei uns ablegen dürfen – die schriftlichen und mündlichen Maturaprüfungen. Hier wird sich vieles um die Erfahrungsnote drehen. Wie viel kann ich mir in welchem Fach leisten? Wo muss ich noch Notenpunkte gutmachen? Wie viele Nachtschichten soll ich einlegen? Und auf wie viel Freizeit muss ich verzichten? Quälende Fragen, die bei manchen Maturandinnen und Maturanden die letzten Wochen mitprägen werden.
Die Aufregung vor Prüfungen ist mir selbstverständlich nicht unbekannt. Nicht nur aus der Perspektive eines Schülers, sondern auch aus jener einer Lehrperson. Denn als ich an einer Berufsschule, an der ich vor Jahren tätig war, noch Abschlussprüfungen in Psychologie und Soziologie abnahm, war ich jeweils – ob Sie es mir glauben oder nicht – nahezu so aufgeregt wie die Prüflinge selbst. Wenn auch aus anderen Gründen.
Lernen sichtbar machen
Der neuseeländische Entwicklungswissenschaftler John Hattie (*1950) hat vor einigen Jahren mit einer grossangelegten Metastudie für Aufmerksamkeit gesorgt, obwohl er sich eine an sich einfache Frage gestellt hat: Welche Faktoren haben den grössten Einfluss auf Lernerfolg? Publiziert hat er seine Befunde im Buch Lernen sichtbar machen (2009). Aber eigentlich hätte er auch lediglich Sie befragen können, statt rund 1200 Studien mit Daten von etwa 250 Millionen Lernenden zu durchkämmen. Denn vermutlich kämen Sie zur selben Erkenntnis:
Viele der stärksten von insgesamt mittlerweile 252 Einflussgrössen auf den Lernerfolg von Schülerinnen und Schüler hängen mit Faktoren zusammen, die im engsten oder weitesten Sinne – wenig überraschend – mit der Lehrperson zu tun haben. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Lehrpersonen bei jeder Prüfung auch immer sich selbst und die eigenen didaktischen und pädagogischen Kompetenzen mitprüfen. Wir freuen uns über jede gute Leistung der Schülerinnen und Schüler nicht zuletzt auch im Wissen, dass man nicht gänzlich unbeteiligt daran war. Dieselbe Logik gilt – bis zu einem gewissen Punkt – selbstverständlich auch im umgekehrten Fall. Wenn kein innerer Willen vorhanden ist, kann von Aussen auch nichts bewirkt werden. Aber auch in solchen Fällen sitzen wir gewissermassen im selben Boot, auch wenn Sie das Ruder fest in Händen halten.
Gemeinsames Abschlussritual
Die Maturaprüfung wird nicht der Moment sein, an dem Sie mit dem Kopf an die Wand einer Sackgasse knallen werden. Vielleicht holen Sie sich in einem Fach eine Beule, weil ihre Tagesform Sie nicht das liefern liess, zu dem Sie an sich fähig wären. Trotzdem handelt es sich dabei um eine Abschlussprüfung, nicht um eine Ausschlussprüfung. Die Weiche hätte viel früher gestellt werden müssen, sollte jemand tatsächlich noch nicht über die notwendige Hochschulreife verfügen.
Insofern wird Ihr Wissen an der Maturaprüfung vielmehr bestätigt, als nur geprüft. Denn bewiesen haben Sie es bereits in unzähligen Klausuren, Vorträgen und Projektarbeiten während mindestens acht Semestern. Die Maturaprüfung ist also vielmehr ein gemeinsames Abschiedsritual – und den gemeinsamen Blick zurück auf vier Jahre Wissenserwerb. Es ist der Moment, an dem wir Sie und Ihr Wissen feiern. Und uns damit ein stückweit auch.