Mauern definieren, was draussen ist – ein Essay über Angst und Toleranz

Mauern definieren, was draussen ist – ein Essay über Angst und Toleranz

In diesem Beitrag geht es um Toleranz – aber erst ganz zum Schluss. Zuvor wird ein weiter Umweg genommen, um auf das philosophische Prinzip beziehungsweise die philosophische Methode der wohlwollenden Interpretation einzugehen. Und in diesem Beitrag geht es auch um Angst. Eben jener Angst, die manchmal unsere Fähigkeit zur Toleranz stillzulegen droht. Ausser wir halten am Prinzip der wohlwollenden Interpretation fest, um erst gar nicht Angst empfinden zu müssen. Wobei sich der weite Umweg über die Philosophiegeschichte vielleicht sogar lohnt.

Dr. phil. Marcello Indino

Folgt man dem deutschen Professor für Philosophiegeschichte Daniel Eggers (*1973), ist die sogenannte wohlwollende Interpretation das philosophische Leitprinzip überhaupt (Mehr Verständnis wagen? Die Zeit, 13. April 2025). Wohlwollende Interpretation ist eine Form grundsätzlicher Herangehensweise an Haltungen  [1] anderer Menschen und damit der Lichtschlag, den wir auf Haltungen werfen. Sprich: wie bestimmte Haltungen verstanden werden – beziehungsweise verstanden werden wollen. Denn wenn wir uns mit einer Haltung auseinandersetzen, beleuchten wir diese gewissermassen, wobei sich daraus wiederum zwei Blickwinkel der Interpretation entwickeln können: Entweder wir widmen uns der Seite, die dem Licht zugewandt ist. Oder aber der Kehrseite des Lichts, dem Schatten.

Begriffsgeschichtlicher Umweg

Etymologisch durchschritt das Prinzip der wohlwollenden Interpretation einen langen Weg, der seinen Ursprung bei der englischen Begriffswendung principle of charity fand, die man grob als Prinzip der Wohltätigkeit oder Prinzip der Wohlgesinntheit übersetzen kann. [2] Basis des methodischen Zugangs ist der unbedingte Wille zur Rationalität. Demnach sind Haltungen so rational wie möglich zu interpretieren, was in der Umkehrung bedeutet, dass niemandem Irrationalität, logische Fehlschlüsse oder Unwahrheiten zu unterstellen sind, wenn anstattdessen eine kohärente oder eben rationale Interpretation der Haltung möglich ist. [3]

Der amerikanische Philosoph Donald H. Davidson (1917-2003) radikalisierte das Konzept gewissermassen, indem er noch einen Schritt weiter ging: [4] Namentlich, sei nicht nur davon auszugehen, dass alle Haltungen einer Person auf Rationalität fussen, sondern auch, dass die interpretierenden Personen die wesentlichen Teile der Haltung sogar teilen. Davidson fasst sein Konzept der radikalen Interpretation oder auch der radikalen Anpassung wie folgt zusammen: «Die Worte und Gedanken anderer ergeben den meisten Sinn, wenn wir sie so interpretieren, dass wir ihnen am ehesten zustimmen können.» Das Konzept des radikalen Willens zur gegenseitigen Zustimmung – oder eben wohlwollenderer Interpretation – wurde in der Forschung hernach auch als Prinzip der Menschlichkeit definiert und diskutiert. [5]

In einer jüngeren Abhandlung [6] wurde wohlwollende Interpretation auf zwei Komponenten reduziert und damit – sollte man sich auf diese Methode einlassen wollen – von der Schwere befreit, die Begriffe wie Radikalität auf der einen und Menschlichkeit auf der anderen Seite in sich tragen. Wohlwollende Interpretation wird demnach alltagstauglich, wenn …

  1. irrelevante Probleme oder offensichtliche Fehler einer mehrdeutigen Haltung ignoriert werden, so dass der Fokus allein auf den Kern der Haltung gerichtet werden kann.
  2. dem gegenüber nichts als gute Absichten unterstellt werden, so dass eine problematische Haltung eher auf ein Missverständnis als auf Böswilligkeit zurückführbar wird.

Verpasste Züge und halbrohe Fledermäuse

Spielen wir die zwei Komponenten zuerst anhand einer vergleichsweise banalen Situation durch, bevor wir ein dramatischeres Beispiel heranziehen. Das Prinzip bleibt in beiden Fällen das gleiche und wirft jeweils die Frage auf, mit welchem Interpretationswillen wir beiden Situationen begegnen.

Kürzlich habe ich auf dem Weg zum Bahnhof einen Fremden auf der Strasse nach der Uhrzeit gefragt, weil ich zu faul war, mein Smartphone aus dem Rucksack hervorzuholen, um selbst nachzusehen. Gemäss seiner Auskunft hatte ich mehr Zeit als angenommen, so dass ich den Umweg durch den Park nahm, statt weiter der befahrenen Strasse zu folgen. Als ich am Bahnhof ankam, musste ich mit Schrecken feststellen, dass der Zug ohne mich abgefahren war – der Fremde hatte mir eine falsche Uhrzeit angegeben. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass dieser mich absichtlich getäuscht hatte – rationaler ist aber, dass er selbst sich getäuscht hat oder dass seine Uhr falsch gelaufen ist.  

Analog dazu ist die Möglichkeit, dass eine Epidemie, die die Welt während Jahre beherrscht und lahmgelegt hat, vom Verzehr einer halbrohen Fledermaus an einem Marktstand im chinesischen Wuhan stammen soll, schlichtweg absurd. [7] Dass aber der Gründer von Microsoft, Bill Gates (*1955), einem Labor die künstliche Herstellung, Züchtung und Verbreitung von Covid-19 in Auftrag gegeben habe, um die Menschheit mittels Mikrochip-Implantaten zu kontrollieren, die unter dem Vorwand auf den Markt gebracht werden, dass sie Impfstoff gegen die Erkrankung aussondern sollen, definiert den Begriff Absurdität gänzlich neu. [8]

Natürlich kann ich mir persönlich nicht vorstellen, eine Fledermaus zu essen, egal ob sie gut durchgebraten oder noch medium-rare ist. Aber ich kann mir vorstellen, wie es ist, Hunger zu verspüren oder schlichtweg Lust auf ein bestimmtes Gericht zu haben. Denn, obwohl ich selbst weit davon entfernt bin, an einem chinesischen Grillstand auf eine Fledermaus zu zeigen, um sie sogleich zu verzehren, kann ich mich mit einem Minimum an Abstraktionsleistung in diese Situation versetzen. Wohingegen es mir schlichtweg unmöglich ist, mich in die Position eines Althippies zu versetzen, der auf seine alten Tage die Weltherrschaft an sich reissen wollte – ganz abgesehen davon, dass ihm dazu dank Microsoft eh nur noch ein kleines Stück des Kuchens fehlt. Ganz im Sinne des nach Robert J. Hanlons benannten – bitte nicht allzu ernst zu nehmenden – Rasiermessers, stellt sich wie so oft die einfache Frage, warum man Böswilligkeit zuschreiben sollte, wenn doch Dummheit als Erklärung ebenso plausibel ist. [9]

Daran anknüpfend steht mir die Bildung eines Urteils darüber, ob das Grillieren und Verspeisen von Fledermäusen legitim ist, nicht zu. Sicherlich stellt aber der Verzehr einer halbgaren und damit krankheitserregenden Fledermaus einen offensichtlichen Fehler in Anlehnung an die oben genannte Komponente A der wohlwollenden Interpretation dar. Diesem offensichtlichen und fatalen Fehler lag aber nichts anderes zugrunde als ein uns allen wohlbekannten biologischen Trieb – Hunger, bestenfalls nur Lust (wenn auch wir Ersterem in unseren Breitengraden in nur schwacher Ausprägung begegnen dürfen). Ganz im Sinne Davidsons radikaler Interpretation kann ich mich also eher in die Position eines biologisch hungernden Menschen hineinversetzen (ergo dieser Position zustimmen), als in jene eines unersättlich machthungrigen Individuums. Und in Anlehnung an Komponente B erscheint es mir natürlich rationaler, den Beginn der Epidemie an einem verheerenden Missverständnis festzumachen als an durchtriebener Böswilligkeit.

Rollenlassen und Wegschauen

An dieser Stelle ist kaum zu überhören, dass mir Naivität vorgeworfen werden könnte. Denn wenn man meine Ausführungen nicht wohlwollend interpretieren möchte (Touché!), könnte man darin die Verleugnung der Existenz von Böswilligkeit erkennen. Doch selbstverständlich wird in diesem Beitrag nicht verkannt, dass Böswilligkeit sui generis existiert. Und selbstverständlich wird die Menschheitsgeschichte, mit ihren unzähligen Opfern, in keiner Weise relativiert. Wohlwollende Interpretation schliesst die Möglichkeit keineswegs aus, dass es Böswilligkeit gibt – sie unterstellt diese aber erst, wenn sich keine andere Interpretationsmöglichkeit als rationaler erwiesen hat.

Böswilligkeit beziehungsweise Arglist können unterschiedliche Ausprägungen haben, wobei damit bewusste Handlungen zum Nachteil anderer gemeint sind. Wer böswillig handelt, handelt aus niederen Motiven und damit auf moralisch verwerfliche Weise. Handlung ist hier aber nicht im Sinne einer kinetischen Bewegung zu verstehen – Menschen handeln auch, wenn sie scheinbar nichts tun. Was eine Handlung definiert, ist nicht eine damit verbundene Bewegung, sondern die ihr zugrundeliegende Absicht. Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt (1929-2023) [10] macht etwa anhand eines im Leerlauf bergabrollenden Autos deutlich, dass auch scheinbar untätige Menschen durchaus absichtsvoll handeln können. Je nachdem, was zur Situation geführt hat, wird der Fahrer des bergabrollenden Fahrzeugs andere Ziele haben. Mit höchster Wahrscheinlichkeit hat er mitunter auch das Ziel, die Situation unbeschadet zu überstehen. Zu einem gewissen Zeitpunkt kann er deshalb mit der Geschwindigkeit und der Richtung des Fahrzeuges zufrieden sein. In ebendiesem Moment bremst er weder ab noch lenkt er nach links oder rechts. Dies deutet aber keineswegs darauf hin, dass sich das Auto nicht unter der zweckgerichteten Lenkung des Fahrers befindet. Dieser macht zwar nichts, das von aussen beobachtbar wäre; er bewegt sich also nicht. Sehr wohl ist er aber in einer Handlung begriffen, weil er jederzeit dazu bereit wäre, korrigierend einzugreifen. Und zwar immer dann, wenn ein Hindernis die Erreichung seines Ziels gefährden würde.

Ergo generiert jede Absicht Entscheidungen. Etwa die Entscheidung, nicht auf das rollende Auto einzuwirken oder aber die Entscheidung, lenkend beziehungsweise bremsend Einfluss auf die Situation zu nehmen. Eine Entscheidung, auch jene, die keine sichtbare Handlung auslöst, kann der Absicht folgen, eine bestimmte Situation unbeschadet zu überstehen. Ergo handeln Menschen auch, wenn sie das Weinen eines Kindes und die Schreie eines Erwachsenen aus der Nachbarwohnung überhören oder wenn sie übersehen, dass eine einzelne Frau von einer Gruppe Betrunkener angegangen wird. [11] Denn, ob eine Situation mich nichts angeht, ist kein gegebener Umstand, sondern meine bewusste Entscheidung.

Die Pyramide aus Angst hochklettern

Den nicht eingreifenden Menschen in den beschriebenen Situationen sei an dieser Stelle – und hierfür muss nicht einmal das Prinzip der wohlwollenden Interpretation bemüht werden – sicherlich nicht Böswilligkeit unterstellt. [12] Und natürlich wäre es auch ein allzu Einfaches, ihnen Ignoranz, Gleichgültigkeit, Egoismus oder dergleichen vorzuwerfen. Denn die Vorwürfe wären nur bis zu jenem Punkt einfach zu formulieren, bis man selbst in eine solche Situation gerät und sich vielleicht erst rückblickend bewusst wird, dass man die falsche Entscheidung getroffen hat – ergo falsch gehandelt beziehungsweise fälschlicherweise nicht gehandelt hat. Das Schicksal von Kitty Genovese löste hierzu eine umfassende – und überaus nachdenklich stimmende – Forschungswelle zum sogenannten Bystander-Effekt [13] aus.

Vereinfachend gesagt, beschreibt dieser Zuschauereffekt den Umstand, dass Menschen in einer Notlage weniger wahrscheinlich helfen, wenn andere Menschen anwesend sind beziehungsweise die Anwesenheit anderer Menschen vermutet wird. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Einer davon ist die Angst vor Fehlentscheidungen oder negativen Konsequenzen. Etwa, selbst in Gefahr zu geraten – oder schon nur sich allenfalls lächerlich zu machen, weil man die Situation falsch eingeschätzt hat. [14] Demnach lässt sich schliessen, dass Angst das treibende Motiv ist, sich bestimmten Situationen zu entziehen. Menschen schauen und hören weg, wenn sie Angst davor haben, in eine Situation zu geraten, die sie nicht unbeschadet überstehen können. Die wenigsten steigen freiwillig in das vorhin erwähnte bergabrollende Auto.

Das Bedürfnis nach Sicherheit gehört gemäss dem amerikanischen Psychologen Abraham Maslow (1908-1970) [15] zwar nicht zu den basalen Bedürfnissen seiner Pyramide, ist aber analog zu den rein physiologischen Grundbedürfnissen (Atmung, Wasser, Nahrung, Schlaf etc.) ein sogenanntes Defizitbedürfnis, dessen Nichtbefriedigung sich unmittelbar oder längerfristig existenzbedrohend auswirkt. Neben den physiologischen Bedürfnissen und dem Sicherheitsbedürfnis zählt Maslow soziale Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Anerkennung sowie Wertschätzung zu den Defizitbedürfnissen.

Das Prinzip der Maslowschen Bedürfnispyramide ist ebenso einfach wie bekannt: Menschen sind grundsätzlich motiviert, die Pyramide zu erklimmen, müssen hierfür aber die einzelnen Bedürfnisse in einer bestimmten Reihenfolge befriedigen: Erst wenn wir dank Nahrung und Schlaf genug Kraft geschöpft haben, können wir uns um die eigene Sicherheit kümmern; und erst wenn wir genug Sicherheit etabliert haben, können wir uns sozialen Belangen widmen …

Die Bedürfnispyramide ist ein eingängiges Sinnbild, klärt aber – obwohl sie zu den Motivationstheorien gehört – bedauerlicherweise nicht, woher die Energie geschöpft wird, die uns antreibt, die einzelnen Bedürfnisse befriedigen zu wollen. Natürlich könnte man postulieren, dass der Mangel eines Bedürfnisses den Willen generiert, ebendieses Bedürfnis zu befriedigen. In dem Falle würden wir von einem Pull-Faktor der Motivation [16] sprechen: Menschen werden gewissermassen die Pyramide hochgezogen, weil etwa der Mangel an Sicherheit sie zur Sicherheitssuche zieht. Maslow versteht seine Pyramide aber nicht als Stapelung von Anreizen im Sinne der Pull-Faktoren der Motivation. Denn Sicherheit ist kein Anreiz, sondern ein Bedürfnis – Sicherheit ist kein willkommenes Goody oder eine reizende Option, sondern hat existentielle Bedeutung.

Vielleicht müssen wir – und nun erhält das Ganze zugegebenermassen eine negative Konnotation – die Perspektive umdrehen: Menschen klettern die Bedürfnispyramide aus Angst hoch, wobei uns Angst im Rahmen der basalen Bedürfnisse am stärksten antreibt. Vermutlich klingt folgende Feststellung banal, sie ist aber notwendig, um den (vielleicht ebenso banalen) Gedankengang nachvollziehen zu können: Offensichtlich ist, dass ein Mensch, der seine Existenzbedürfnisse befriedigen will, am Leben ist. Seine Existenz belegt unmittelbar, dass die basalen Bedürfnisse – zumindest zum absoluten Minimum hin – gestillt sind. Ergo handeln Menschen aus Angst, ebendiese Existenz zu verlieren.

Sicherlich ist die Angst auf der Ebene der physiologischen Bedürfnisse am grössten, weil jeglicher Verlust unmittelbar existenzbedrohlich – also existenzvernichtend – wäre. Hin zur Pyramidenspitze nimmt die Angst, zusammen mit der Unmittelbarkeit der Bedrohung, wiederum ab. Und vielleicht lässt sich sogar bezweifeln, dass Angst im oberen Bereich der Defizitbedürfnisse (also auf der Ebene der sozialen Bedürfnisse sowie dem Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung) überhaupt als Entwicklungsmotor hinzugezogen werden darf. Dann müsste man sich aber auch die Frage stellen, warum Maslow von Defizitbedürfnissen spricht, wenn man nicht Angst um seine Existenz haben muss, sollte man eines dieser Bedürfnisse nicht befriedigen können.

Nur positives Recht oder gar Naturrecht?

Davon abgesehen erscheint es wohl plausibel, dass es die Angst vor Hunger und Kälte war, die uns gelehrt hat, Felder zu bestellen beziehungsweise Häuser zu bauen. Und ebenso plausibel erscheint es, dass die Angst vor Bedrohungen uns dazu getrieben hat, Mauern hochzuziehen – ab diesem Zeitpunkt wurde aus der unspezifischen Bedrohung eine Bedrohung von aussen.

Intoleranz entwächst der Angst, die eigene Sicherheit zu verlieren. Wiederum kann ebensolche angstgetriebene Intoleranz dazu führen, dass die Würde eines anderen bedroht wird. Und dies, obwohl ebendiese Würde unantastbar sei, wenn man etwa dem ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes folgt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Obwohl sie von untergeordneter praktischer Relevanz ist, ist die Interpretation des Artikels umstritten, mitunter – wenn auch erstaunlicherweise – weil es sich dabei um eine normative Aussage handelt. [17] Der Artikel trifft eine sowohl evaluative wie auch präskriptive Aussage; er wertet und schreibt vor. [18] Versteht man den Artikel als überpositives Recht, also als Naturrecht, spielt es keine Rolle, ob er im deutschen oder in sonst einem Grundgesetz steht – oder überhaupt irgendwo steht. Denn Naturrechte umschreiben universell gültige Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung, auf deren Normen menschliches Zusammenleben gründet. Naturrechte sind gewissermassen ab Geburt gegeben – ähnlich wie das Naturgesetz der Schwerkraft. Die Unantastbarkeit der Würde gilt, wie die Schwerkraft, ubiquitär.

Anderer Auffassung sind Rechtspositivisten, die zwischen dem Recht (im Allgemeinen) und ebendiesem Artikel (im Speziellen) keine gegebene Verbindung zu ethischen oder moralischen Fragen sehen. Artikel 1 des Grundgesetzes gilt einzig und allein, weil es die gesetzgebende Instanz im vorgeschriebenen Verfahren verabschiedet hat. [19] Diese Interpretationsweise hat den Rechtspositivisten Hans Kelsen dazu verleitet, festzustellen, dass demnach jeder beliebige Inhalt Recht sein oder werden kann. [20] Damit wenden sich Rechtspositivisten auch gegen gewissermassen schwache Auffassungen der sogenannten Radbruchschen Formel von 1946, benannt nach dem deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949). Ihr folgend, muss sich ein Richter dann – aber nur dann – gegen das geltende Recht und für materielle Gerechtigkeit entscheiden, wenn das fragliche Recht als unerträglich ungerecht anzusehen ist, etwa weil die Gleichheit aller Menschen bewusst verleugnet wird. [21] Nun ist das Recht auf die schiere Existenz unbestrittenerweise ein – oder gar das – Naturrecht sui generis. Jeder Angriff sowohl auf ein Grundbedürfnis wie auch auf das Sicherheitsbedürfnis bedroht dieses Existenzrecht, denn in allen Fällen handelt es sich um ein unverzichtbares Defizitbedürfnis.

Zurück zur wohlwollenden Interpretation

Und physiologisch betrachtet, ist es auch nicht von Relevanz, ob diese Bedrohung objektiv real oder lediglich subjektiv empfunden wird: Wird phänomenologisch Angst empfunden, entspinnt sich daraus immer eine sogenannte Verteidigungskaskade, [22] die typischerweise (aber nicht nur) eine Flucht- oder eine Kampfreaktion evoziert. Intoleranz kann als eine solche Kampfreaktion gelesen werden, die darauf abzielt, die reale oder vermeintliche Bedrohung gewissermassen zu beseitigen.

Heisst dies, dass man Intoleranz, weil sie einer real empfundenen Existenzangst entspringt, wiederum tolerieren soll? Nicht unbedingt, nein. Ausser, man versteht sich sowohl als kritischen wie auch als toleranten Menschen. Damit sei aber selbstverständlich keine normative Aussage erhoben, sondern nur eine These oder gar nur eine Arbeitshypothese festgehalten, die wie folgt lautet:

Gewissen Haltungen kann man auch beim besten Willen – sprich, trotz wohlwollender Interpretation – nicht mit Toleranz begegnen. Nämlich immer dann, wenn diese Haltungen den eigenen Toleranzwillen aushebeln, weil sie in sich intolerant sind beziehungsweise Toleranz an sich ablehnen. Das ist immer dann der Fall, wenn Haltungen sich durch Intoleranz definieren, wenn also Intoleranz der Kern der Haltung ist. In einer (Haltungs-)Welt ohne Toleranz ist Toleranz, offenkundig, nicht vorhanden und damit auch nicht anwendbar. Ergo wirkt eine in sich oder an sich intolerante Haltung gewissermassen wie ein Nullmultiplikator. Anders verhält es sich mit Haltungen, denen Intoleranz nicht definierend innewohnt, aus denen aber Intoleranz emergiert beziehungsweise wenn sich Intoleranz aufgrund einer Haltung manifestiert.

Unter Emergenz wird der Umstand verstanden, dass ein einzelnes Gehirnneuron nur elektrische Impulse weiterleiten kann, es aber noch keine Gedanken oder gar ein Bewusstsein erzeugt. Hingegen erzeugt das Zusammenspiel von Milliarden von Gehirnneuronen Gedanken beziehungsweise Bewusstsein – und damit etwas, das sich aus der Funktion eines einzelnen Neurons nicht direkt ableiten lässt. [23] Intoleranz ist als Haltung immer ein Gedankengeflecht, das entsteht – weil Gedanken sich per se nur mit Emergenz erklären lassen. Ausschlaggebend ist aber das Momentum der Emergenz: Intoleranz als definierendes Element emergiert gewissermassen primär: Die Intoleranz steht an erster und vielleicht sogar einziger Stelle. Intoleranz als ein sich manifestierendes Element emergiert hingegen sekundär; es ist eine mögliche Folge einer bestimmten Haltung, nicht aber die Haltung an sich.

Ob diese These haltbar – oder nur dank sehr viel wohlwollender Interpretation überhaupt erträglich ist – darf nun Ihnen überlassen werden.


[1]      In einem vereinfachenden Sinne wird der Begriff Haltung stellvertretend etwa für Gedanken, Aussagen oder auch Handlungen verwendet.

[2]      Wilson, N. L. (1959). Substances without Substrata. The Review of Metaphysics, 12, 532f.

[3]      Baillargeon, N. (2007). Intellectual Self-Defense. New York: Seven Stories.

[4]      Davidson, D. (1984): Inquiries into Truth and Interpretation. Oxford: Clarendon.

[5]      Dennett, D. (1989). The Intentional Stance. Cambridge: MIT Press.

[6]      Pruś, J. &Sikora, P. (2023). The Dialectical Principle of Charity: A Procedure for a Critical Discussion. Argumentation, 37, 577ff.

[7]      https://nationalgeographic.de/wissenschaft/2021/07/der-ursprung-des-coronavirus-vier-moegliche-szenarien/

[8]      https://www.nzz.ch/technologie/allen-verschwoerungstheorien-ist-ein-gefuehl-der-ueberlegenheit-gemein

[9]      Bloch, A. (1980). Murphy’s Law, Book Two: More Reasons why Things go Wrong! (S. 52). Los Angeles: PSS.

[10]    Frankfurt, H. G. (1978). The Problem of Action. American Philosophical Quarterly, 15,157ff.

[11]    An dieser Stelle werden Sie hoffentlich dazu geneigt sein, zwei Wörter dieses Satzes in Anführungszeichen setzen zu wollen.

[12]    Selbstverständlich würde das Urteil in Bezug auf die Akteure ganz anders ausfallen!

[13]    https://de.wikipedia.org/wiki/Zuschauereffekt

[14]    Fischer, P., Jander, K., & Krueger, J. (2018). Sozialpsychologie. Berlin: Springer.

[15]    Maslow, A. (1943). A Theory of Human Motivation. Psychological Review, 50, 370ff.

[16]    Rheinberg, F. & Vollmeyer, R. (2018). Motivation. Stuttgart: Kohlhammer.

[17]    https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/kfg-normenbegruendung/intern/publikationen/gutmann/07_gutmann_-_menschenw__rde_als_rechtsbegriff.pdf

[18]    https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/normativ/1443

[19]    https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/recht-a-z/323925/rechtspositivismus/

[20]    Kelsen, H. (1960). Reine Rechtslehre: Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (2. Aufl., S. 201). Leipzig: Deuticke.

[21]    https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=34979&elem=2798224

[22]    Kozlowska, K., Walker, P., McLean, L., & Carrive, P. (2015). Fear and the Defense Cascade: Clinical Implications and Management. Harvard Review of Psychiatry, 23, 263ff.

[23]    Weber, M. (2005). Supervenienz und Physikalismus. In U. Krohs & G. Toepfer (Hrsg., S. 73), Philosophie der Biologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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