Oliver Twist: Kriminell und doch gut?

Oliver Twist: Kriminell und doch gut?

Die American Drama Group erweckte im «Dreispitz» für die 3. und 4. Klassen Charles Dickens› berühmten Roman Oliver Twist zum Leben. Die Adaption zeigte eindrucksvoll auf, wie das Schicksal eines unschuldigen Waisenjungen in einer erbarmungslosen Gesellschaft zahlreiche Opfer fordert.

Corina Tobler

Wer kennt sie nicht, die Geschichte des armen Oliver Twist, der mit seinem ersten Atemzug gleich seine Mutter verliert, allem Anschein nach eine mittellose Frau, die sich auf den schmutzigen Strassen Londons im 19. Jahrhundert durchzuschlagen versuchte. Oliver, von den «respektablen, ehrenhaften» Männern, die für die Kirche arbeiten, zum gesellschaftlichen Aussenseiter degradiert, muss daher von Anfang an leiden. Im Workhouse bekommt er kaum genug zu essen, wird aufgrund seiner Frage nach mehr an einen Bestatter verkauft und landet schliesslich auf den Strassen Londons, wo er beim Juden Fagin und seiner Taschendieb-Bande Unterschlupf findet. Nachdem ein Diebstahl auffliegt, nimmt der gutmütige Mr. Brownlow aus der oberen Gesellschaftsschicht den jungen Oliver unter seine Fittiche. Bald entbrennt ein Kampf um den Jungen, dessen ungeklärte Herkunft sowohl Fagin und seine kriminellen Freunde als auch Mr. Brownlow und seine Familie umtreibt.

Fagin wird zum Erzähler

Während Leser wohl klar das Wohlergehen des kleinen Oliver priorisieren und sich somit auch mit Mr. Brownlow solidarisieren, wählt die American Drama Group eine andere Perspektive auf das Werk. Erzählt wird zwar Olivers Geschichte, doch seine Probleme sind von Anfang an als Kettenreaktion unangebrachten Verhaltens der Oberschicht zu verstehen. Dies verdeutlicht die Wahl Fagins als Erzähler auf der Bühne. Er erzählt auf dem Galgen Olivers Geschichte. Der von Dickens stereotyp als geldgierig dargestellte Jude ist, wie Oliver, ein Ausgestossener aus der viktorianischen Gesellschaft – aus seiner Sicht gezwungen, Kinder auszunutzen, um sich zu bereichern. Den Jungen in seiner Gang von Taschendieben geht es tatsächlich besser als denen, die im Workhouse vor sich hin rackern und, im Extremfall, dort unterernährt und überarbeitet versterben. Fagins klare Sichtweise verdeutlicht in dieser Bühnenversion das tragische Schicksal der Prostituierten Nancy, die wie in der Originalversion von Charles Dickens mit ihrem Leben dafür büsst, den unschuldigen Oliver beschützen zu wollen.

Die Botschaft ist klar: Kriminelle einfach in eine Schublade zu stecken ist, besonders für wohlhabende Mitglieder der Gesellschaft, verwerflich. Einerseits verschulden sie im England des 19. Jahrhunderts die Ausweglosigkeit der Randständigen durch Gesetze, die Workhouses oder Kinderarbeit legitimieren. Andererseits urteilen sie so oberflächlich, dass sie gar nicht bemerken, wenn Kriminelle enge Verbindungen zu ihnen haben oder gar Teil ihrer gesellschaftlichen Schicht sind.

Thematik bleibt relevant

Die stark reduzierte Fassung, die von der American Drama Group mit nur fünf Schauspielerinnen und Schauspielern aufgeführt wurde, überzeugt nicht nur mit dieser starken Botschaft, sondern auch mit glaubwürdigen Darstellungen der wesentlichen Figuren im Werk. Dies fordert den Darstellern einiges ab, spielen sie doch nicht nur eine, sondern stets mehrere Rollen, was diverse Kostüm-, Dialekt- und Stimmwechsel in Windeseile nötig macht. Das Bühnenbild, ebenfalls aufs Wesentliche beschränkt, funktioniert mit einfachen Tricks, die es erlauben, von Fagins Versteck unter der Falltür über ländliche Gegenden bis zum Smog Londons Orte mit der passenden Stimmung zu kreieren.

Letztlich stammt die Überzeugungskraft des Werks indes von Charles Dickens und seinem Original. Oft als Gewissen seiner Zeit bezeichnet, mag er im 19. Jahrhundert in England zwar viel stärkere soziale Ungleichheiten angetroffen haben, als sie heute in der Schweiz bestehen. Die Fragen, die sein Werk aufwirft, bleiben aber relevant. Wie nur schon Olivers Nachname sagt: Jede Geschichte hat zwei Seiten und nicht alles ist, wie es scheint.

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