Die Idee zur Vorbereitungsklasse an der Kantonsschule Kreuzlingen für Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine entstand, als die Erschütterung über den Angriffskrieg Russlands noch spürbar bebte. Damals wie heute leben wir im Gefühl, dass die Uhr der Geschichte zurückgedreht wurde – zurück in eine Zeit, die wir der Vergangenheit angehörig glaubten. Umso wichtiger erschien es, einen innovativen Schritt zurück nach vorn, wieder in Richtung Zukunft, zu machen. Und weil Bildung für Innovation und Zukunft steht – und vermutlich auch, sollten Sie mich fragen, die bestmögliche Landesverteidigung ist – wurde quasi über Nacht die Vorbereitungsklasse für ukrainische Schülerinnen und Schüler aus dem Boden gestampft.
Marcello Indino
Als der Regierungsrat des Kantons Thurgau im Spätwinter 2023 den Beschluss fasste, an einer Thurgauer Mittelschule eine Klasse zu bilden, die Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet, war die grundsätzliche Unterstützung gross – gleichzeitig machten berechtigte Fragen die Runde. Etwa, warum eine solche Klasse an einer Mittelschule statt an einer Volksschule angesiedelt werden solle. Oder auch, warum eine solche Klasse nur ukrainischen Schülerinnen und Schüler vorbehalten sei, wo doch andere in der Schweiz lebende Jugendliche aus anderen Regionen der Welt sich in einer vergleichbaren Situation befänden. Und überhaupt, wie das organisatorisch machbar sei, da die Resultate der Aufnahmeprüfung 2023 noch nicht vorlägen und es daher noch nicht absehbar sei, wie das bestehende Personal eingesetzt werden müsse.
Wie festgehalten, durchaus berechtigte Fragen, klar. Und doch gab es, auf die Gefahr hin, eine zu pragmatische Perspektive einzunehmen, sowohl für mich wie glücklicherweise auch für die gesamte Schulleitung und die grosse Mehrheit des Kollegiums der Kantonsschule Kreuzlingen auf alle Fragen immer dieselbe Antwort: Hauptsache, dass!
Drei berechtigte Einwände
Dass das Gymnasium die einzige Schulstufe ist, die mittels einer Aufnahmeprüfung den Zugang neuer Schülerinnen und Schüler reguliert (mit Ausnahme des Numerus Clausus in besonders gefragten Studiengängen, wie etwa Humanmedizin), ist in der sonst überaus durchlässigen Schweizer Bildungslandschaft ein immer wieder umstrittenes Unikat. Ein Unikat, das nun durch die Vorbereitungsklasse weiter akzentuiert zu werden scheint, denn die Gymnasien sollten ukrainische Schülerinnen und Schüler nicht nur prüfen, sondern sogar auf die selbigen Prüfungen vorbereiten. Offensichtlich ist dieses Prozedere diskutierbar, es war aber zum damaligen Zeitpunkt die einzige Option, die auf dem Tisch lag. Neben jener, gänzlich auf die Vorbereitungsklasse zu verzichten …
Und selbstverständlich liegt es auf der Hand, dass auch vertriebene Menschen aus anderen, medial vielleicht mittlerweile fast vergessenen Kriegsregionen, eine reale Chance erhalten sollen, ihr intellektuelles Potential an einer Mittelschule entfalten zu dürfen. Selbstverständlich gibt es rational keine Gründe, eine bestimmte Personengruppe gewissermassen zu privilegieren – nur weil ein Krieg uns, aus welchen Gründen auch immer, emotional gerade stärker berührt als ein anderer. Offensichtlicherweise ist diese Selektion diskutabel, sie war aber zum damaligen Zeitpunkt die einzige Option, die auf dem Tisch lag. Neben jener, gänzlich auf die Vorbereitungsklasse zu verzichten …
Nicht zuletzt bestätigten sich die organisatorischen, personellen Befürchtungen: Kurz nachdem wir den Zuschlag erhalten hatten, die Vorbereitungsklasse für ukrainische Schülerinnen und Schüler an der Kantonsschule Kreuzlingen zu führen, zeigten die Resultate der Aufnahmeprüfung 2023, dass wir im neuen Schuljahr fünf statt den üblichen vier Klassen bei uns starten würden. An sich ein erfreuliches Resultat (das sich auch im Jahr 2024 wiederholt) personalplanerisch aber, gerade für eine kleine Kantonsschule, eine grosse Herausforderung. Die Lehrpersonen, die dazu bereit waren, in der Vorbereitungsklassen zu unterrichten, wurden nun dringend in den fünf regulären Gymnasialklassen benötigt. Offensichtlicherweise war der entstandene Personalengpass suboptimal, er war aber zum damaligen Zeitpunkt die einzige Option, die auf dem Tisch lag. Neben jener, gänzlich auf die Vorbereitungsklasse zu verzichten …
Integrationskurs 2plus
Diese und andere berechtigte Fragen blieben nicht ungehört, denn ab dem Schuljahr 2024/25 wird es keine Vorbereitungsklasse für ukrainische Schülerinnen und Schüler an der Kantonsschule Kreuzlingen mehr geben. Ersetzt wird diese mit dem neu gebildeten Integrationskurs 2plus, der zum Ziel hat, geeignete Teilnehmende auf eine kantonale Mittelschule oder die Thurgauisch-Schaffhauserische Maturitätsschule für Erwachsene vorzubereiten. Zielgruppe des sogenannten IK2+ sind leistungsstarke Jugendliche und junge Erwachsene aus anderen Integrationskursen sowie aus den öffentlichen Schulen, welche die obligatorische Schule während ein bis zwei Jahre in der Schweiz besucht haben, aber noch nicht über das Deutschniveau B2 verfügen (abstrakte und längere Texte werden verstanden, ebenso ist eine Diskussion in unterschiedlichen Fachgebieten möglich und es bestehen solide Kenntnisse der deutschen Grammatik). Organisiert wird der neue Integrationskurs vom Amt für Berufsbildung und Berufsberatung, findet an einer Berufsschule in Frauenfeld statt und steht Schülerinnen und Schülern aller Herkunftsländern offen, die die oben genannten Kriterien erfüllen.
Herzlicher Dank und grosser Respekt
Somit hat es sich gelohnt die skizzierten Einwände zwar ernst zu nehmen, aber vorerst unserer pragmatischen Devise in dieser Frage unterzuordnen – Hauptsache, dass! Natürlich gibt es adäquatere Lösungen, als Vorbereitung und Prüfung unter dem gleichen Dach durchzuführen. Aber immerhin konnte man dadurch Zeit für ausgereiftere Modelle gewinnen. Und natürlich war es nicht ideal, nur eine Handvoll Schülerinnen und Schüler aus einem bestimmten Land zu fördern. Aber immerhin genossen diese Menschen inidividuelle Förderung und trugen dazu bei, dass über offenere Wege nachgedacht wurde. Und ja, natürlich gingen nicht alle personaltechnische und organisatorische Belange reibungslos über die Bühne. Aber das grosse Engagement der involvierten Lehrpersonen ermöglichten es uns, auch diese Hürden zu überspringen.
Und so geht mein aufrichtigster Dank an Irina Kroeske (Deutsch), Rahel Wulf (Französisch) und Elyas Erdogan (Mathematik), die dazu bereit waren, sich in nur wenigen Wochen in eine herausfordernde Aufgabe einzuarbeiten: Innerhalb von nur zehn Monaten Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine auf eine reguläre Aufnahmeprüfung für ein Schweizer Gymnasium vorzubereiten. Schülerinnen und Schüler, die wenige Monate zuvor aus ihrem Land flüchten mussten, teilweise noch kaum Deutsch (geschweige denn Französisch) sprachen und die zwar solide Mathematikkenntnisse mitnahmen, diese aber auf herzerwärmende Weise, gemessen an den Anforderungen eines hiesigen Gymnasiums, deutlich überschätzten.
Und ebenso geht mein grösster Respekt an jene fünf Schülerinnen und Schüler, die die letzten Monate mit enormem Leistungswillen – immer die ihnen gebotene Chance vor Auge führend – durchgestanden haben und am 24. und 25.05.2024 endlich beweisen können, dass sie an ein Schweizer Gymnasium gehören. Endlich dürfen sie anch zehn Monaten intensiver Vorbereitung eine reguläre Aufnahmeprüfung ablegen und dann bestenfalls per August 2024 in die erste Klasse ein Thurgauer Gymnasium wechseln. Ironischerweise würde niemand von ihnen an der Kantonsschule Kreuzlingen verbleiben, da die Wohnorte nahe anderer Thurgauer Mittelschulen liegen. Aber auch in diesem Falle gilt die Devise Hauptsache, dass!
Wir wünschen Euch viel Erfolg für die bevorstehenden Prüfungen und dann eine inspirierende Gymnasialzeit – Respekt, ihr habt es Euch verdient!