Was haben Anagramme, Filmmusik, Newton und die gespaltene Gesellschaft miteinander zu tun und wie schaffen wir es, wieder miteinander statt gegeneinander zu reden? Ein Neujahrsgruss von Rektor Marcello Indino.
Marcello Indino
Kürzlich fragte mich unser neunjähriger Sohn, worüber denn die Erwachsenen vor Corona eigentlich sprachen. Eine berechtigte Frage, die ich nicht genau beantworten konnte. War die Arbeit Thema Nummer eins? Oder eher doch Fussball? Nein, vielleicht war es das Wetter. Ich weiss es nicht mehr… Heute spricht jede und jeder, hier und überall, nun und immer über Corona. Alles hat mit Corona zu tun – die Arbeit, Fussball und sicher auch das Wetter, irgendwie.
In den Wochen vor Weihnachten haben mich viele persönliche Schreiben erreicht, die dieses allgegenwärtige Thema aufgegriffen haben. In manchen wurde die fehlende Maskenpflicht beklagt, in anderen deren Wiedereinführung. Manche wünschten sich wieder Fernunterricht herbei, in anderen wurde vor den Folgen gewarnt. Viele lobten den Umgang der Schule mit der Krise, ebenso viele kritisierten unsere vermeintliche Unfähigkeit.
Alle Positionen kann ich, für sich genommen, nachvollziehen. Und allen Positionen kann ich, für sich genommen, etwas abgewinnen. Doch wie ist zu fühlen, denken und handeln, wenn man alle Positionen gemeinsam betrachtet und versucht, zu der einen einzigen Lösung zu kommen, die für uns alle und in jedem Fall sinnbringend sein soll? So sehr mich die früheren Gespräche über das Wetter gelangweilt haben, so sehr wünsche ich sie mir manchmal zurück…
Zum angebrochenen neuen Jahr wünsche ich trotzdem für uns als Schule im Spezifischen und für uns als Gesellschaft im Allgemeinen nicht wieder die alten belanglosen Gespräche zurück – sondern ganz generell mehr Gesprächsbereitschaft! Also den ehrlichen Willen, sich Zeit für das Gegenüber zu nehmen, um zuzuhören – statt nur darauf zu warten, dass man selber mit Reden einsetzen kann. Dies auch in Bezug auf die noch immer grassierende Pandemie.
Venus in Beton
Haben Sie sich schon mal gefragt, warum die eine Mutation des Coronavirus Delta genannt wurde und die darauffolgende nicht etwa Epsilon, sondern den Namen Omicron (ins Deutsche transferiert Omikron) erhielt? Ganz einfach… Damit wir alle endlich begreifen, dass die vierte Staatsgewalt demokratischer Staaten, die sogenannte publikative Gewalt – also die Medien, die mächtigste aller Staatsgewalten ist.
So zumindest gewissen Denkrichtungen zufolge, die zur Beweisführung ein Anagramm bemühen, also gewissermassen ein Buchstabenrätsel. Anagramme entstehen durch Umstellung von Buchstaben innerhalb eines Wortes oder einer Wortfolge, so dass neue, sinnvolle Wörter gebildet werden können. Aus einem Tor wird ein Ort, aus einer Ampel eine Lampe und daraus wiederum eine Palme, aus Subventionen wird…
Ein Meme, das in den vergangenen Wochen viral ging, bildet aus der Wortfolge Delta – Omicron das stimmige Anagramm Media Control. Beweis genug? Für die meisten vermutlich nicht. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass Medien und deren Form von Berichterstattung unsere Emotionen und unser Denken entscheidend prägen. Bilder lösen andere Gefühle aus als Wörter; unterlegt man Bilder mit Musik, entstehen wiederum neue Emotionen.
Kopfkino dank eines Spaghettiwesterns
Wenn Sie sich rund sieben Minuten Zeit nehmen möchten, lohnt es sich, diesen Clip anzuschauen. Er zeigt einen Ausschnitt aus dem Western Spiel mir das Lied vom Tod des italienischen Regisseurs Sergio Leone aus dem Jahr 1968. Er zeigt drei Mal die gleiche Begegnung zweier Kontrahenten, wie anhand des Originalsoundtracks im ersten Durchlauf schnell zu erkennen ist.
Beim zweiten Durchlauf wird die Filmmusik gänzlich weggelassen, was im Vergleich eigenartig wirkt, weil man die Begegnung nun nicht mehr richtig einordnen kann. Richtig interessant wird es im dritten Durchlauf, der mit dem Lied Togetherness des Komponisten Ferenc Hegedus unterlegt wurde. Handelt es sich bei den zwei Männern tatsächlich um Kontrahenten, die sich zum Duell treffen? Nein… Doch, irgendwie… Wobei? Nein, nicht wirklich…
Die Irritation, die alleine durch das Austauschen von Filmmusik entstehen kann, hat aber auch etwas Beruhigendes: Wir dürfen die Suche nach der Wahrheit beiseitelassen, denn diese eine Wahrheit scheint es nicht zu geben. Ändert sich ein Faktor, verändert sich das gesamte Konstrukt. Manche sagen, der Schädel sei rund, damit sich die Gedanken darin wenden können. Sprich, kognitive Inflexibilität führt zu Entwicklungsresistenz.
Die Orthografie von Naturgesetzen
Selbstverständlich gibt es Axiome, die nicht beliebig verändert werden können. So besagt das erste Gesetz des englischen Physikers Isaac Newton, das sogenannte Trägheitsgesetz, dass ein Körper in Ruhe oder in gleichförmiger gradliniger Bewegung bleibt, solange die Summe der auf ihn wirkenden Kräfte null ist. Auch wenn man mit der entsprechenden mathematischen Formel vielleicht nichts anzufangen weiss, wirkt das Axiom für mich schlüssig und wurde meines bescheidenen Wissens nach auch nie widerlegt.
Beim Wort Haus handelt es sich offenbar um ein seit dem 8. Jahrhundert bezeugtes Erbwort, dessen althochdeutsche Form hūs lautete und sowohl das Gebäude als mitunter auch die Familie bezeichnete. Die entsprechende mittelhochdeutsche Form lautete ebenfalls hūs, bezeichnete jedoch zudem auch Wohnung, Hütte oder Schloss (Wiktionary). Klar könnte man eine sprachwissenschaftliche Norm eher anpassen als ein naturwissenschaftliches Axiom. Aber welchen Nutzen hätten wir nach nunmehr 13 Jahrhunderten davon?
Lieber gemeinsam schweigen?
Weniger starr als naturwissenschaftliche Gesetze oder sprachwissenschaftliche Normen sind psychologische Mechanismen. Hier spielen die eigene kognitive Flexibilität, die eigenen Erfahrungswerte oder das eigene soziale Umfeld eine entscheidendere Rolle. Bei allen Menschen fällt ein Stein zu Boden, wenn er losgelassen wird. Und die allermeisten von uns leben glücklicherweise in dem, was sie das Haus, la maison oder the house nennen.
Dasselbe Ereignis kann aber bei unterschiedlichen Menschen auf seelischer Ebene Narben hinterlassen, die wiederum ungleich tief sind beziehungsweise ungleich heilen, während andere Menschen eben dieses Ereignis sogar positiv assoziieren. Um nicht tragische Extrembeispiele zu nennen, greife ich lieber nochmals auf die Filmwelt zurück: Ich schätze, dass alle Menschen bei Horrorfilmen Gefühle entwickeln, aber nicht alle haben Angst.
Die menschliche Psyche kann Kräfte entwickeln, die uns sowohl erkranken wie auch genesen lassen können. Wie weit diese Kräfte gehen – ob sie also auch die Kräfte der Somatik, des Körpers, überwinden können – ist Gegenstand einer komplexen und kontrovers geführten Debatte. Manche attestieren den seelischen Selbstheilungskräften die Fähigkeit, biologische Prozesse nicht nur zu beeinflussen, sondern auch zu steuern.
Dass es verschiedene Ansichten gibt, ist nicht das Problem – ganz im Gegenteil. Wir erinnern uns an die Metapher der runden Schädeldecke. Bedenklich ist aber, dass Diskurse oft nicht sachlich, sondern dogmatisch geführt werden: Ansichten werden nicht ausgetauscht, sondern prallen unveränderlich aufeinander und zurück an die jeweiligen Sender. Der Nutzen eines Gesprächs wird dadurch neutralisiert – dann doch lieber gemeinsam schweigen.
Eine gespaltene Gesellschaft macht krank
Neben psychischen und biologischen Kräften gibt es, meines Erachtens, auch soziale Kräfte – die Rede ist hierbei vom sogenannten bio-psycho-sozialen-Modell, das die zeitgenössische Psychologie massgeblich prägt. Hierbei geht man davon aus, dass die ganzheitliche Gesundheit eines Menschen sowohl von seinem Körper, der biologischen Kraft, seinen Gedanken und Empfindungen, der psychischen Kraft, wie auch von seinem Umfeld, der sozialen Kraft, abhängt.
Eine gespaltene Gesellschaft ist offensichtlich eine geschwächte Gesellschaft – dies überträgt sich dem Modell zufolge wiederum auf die biologische und psychische Gesundheit der Individuen ebendieser Gesellschaft. Sprich, erkrankt die Gesellschaft, erkranken auch die einzelnen Menschen, die sie bilden.
Die immer noch grassierende Pandemie trifft uns alle – insbesondere aber die Jugendlichen. Wenn ich an meine Gymnasialzeit zurückdenke und davon zwei Jahre gewissermassen nach den geltenden Schutzmassnahmen gedanklich umgestalten müsste, wüsste ich nicht, welche ich wählen würde. Klar, alles birgt auch seine Chancen… Trotzdem steht fest, dass Vieles schlichtweg nicht möglich gewesen wäre.
Die Inhalte der Debatten drehten sich zuerst um Chancen sowie Gefahren von Fernunterricht und, gleich anschliessend, um die Fairness von Maturaprüfungen trotz mehrwöchiger Schulschliessung. In regelmässigen Abständen drehen sie sich um Nutzen und Schaden der Maskenpflicht. Und seit nunmehr einigen Monaten drehen sie sich um das Impfen beziehungsweise das Boostern – also letztendlich um psychische und biologische Kräfte.
Bedrohlich empfinde ich dabei vor allem die Tatsache, dass dogmatisch geführte Debatten die dritte Kraft jedes Individuums schwächen – die soziale. Eine gespaltene Gesellschaft ist eine geschwächte Gesellschaft. Die oder der Einzelne, das Individuum, wird kaum psychisch und/oder biologisch gesund bleiben können, wenn der soziale Überbau durch Spaltung zunehmend geschwächt wird.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gesprächsreiches, toleranzgeprägtes und psychisch, körperlich und sozial gesundes neues Jahr! Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen!