Generationen im Gleichgewicht

Generationen im Gleichgewicht

Der Name des Förderprogramms der Kantonsschule Kreuzlingen wurde im Rahmen eines Wettbewerbs innerhalb der Schülerschaft erkoren und ist gewissermassen Programm, denn Balance will Gleichgewicht zwischen Bildung und Leidenschaft erzielen. Doch bevor das Förderprogramm der Kantonsschule Kreuzlingen thematisiert wird, nimmt dieser Text einen – durchaus ironisch gemeinten – Umweg zurück in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts.

Marcello Indino

Die New York Times hatte vielleicht recht, als sie folgenden Ausspruch als «das Ende der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Generationen» bezeichnete. Selbst durfte ich mir die Wortwendung jüngst von unserem zehnjährigen Sohn während des Einkaufens anhören, als ich mich gerade erdreistet hatte, eine knallbunte Packung Umweltsünde® in den Warenkorb zu legen: «Frischhaltefolie, echt jetzt? OK Boomer!» Meine Reaktion mag pädagogisch durchaus zu diskutieren gewesen sein, denn ich hielt mit Nachdruck (und wohl einem TikTok zu laut) fest, dass ich nicht der Baby-Boomer-Generation angehöre! Dass ich dennoch die Cellophan-Rolle zurücklegte und mit wiederverwendbaren Glasbehältern zum praktischen Portionieren von gutem Gewissen ersetzte, rettete meinen Gesichtsverlust nur marginal.

Mit dem Golf ins Praktikum

Natürlich bin ich mir im Klaren, dass es beim Frischhaltefolien-Debakel nicht um die Frage ging, welcher Generation ich angehöre. Es sei dennoch festgehalten, dass ich Teil der Generation X bin – obwohl ich nie einen Golf gefahren oder Praktikant gewesen bin (Florian Illies, Generation Golf, 2000). Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, «als MTV noch Musik spielte» (Casper, Bumaye, 2008). Unser gesellschaftspolitischer Soundtrack war geprägt von langsam aussterbendem weissen Punk, der die Berliner Mauer zu Fall gebracht hatte und auf deren Trümmer nun afroamerikanische Rapper scratchten und sampelten. Soweit die mystifizierte, durchaus mit Pathos angereicherte Variante. Andere würden schlichtweg sagen, dass wir mit dem Mentos-the-Freshmaker-Lebensgefühl aufgewachsen sind. Vermutlich handelt es sich hierbei nicht nur um ein Kompliment.

Work-Life-Asana

Wir vor den 1990ern Geborene waren jene, die der Generation unserer Eltern – den Boomern eben – verständlich machen mussten, dass Unabhängigkeitsstreben, Individualismus und Freiheitsliebe nicht Euphemismen für Faulheit, Ziellosigkeit und Perspektivenmangel, sondern (vermeintlich, notabene) sinnstiftende Werte einer (ebenso vermeintlich, notabene) gesunden Lebenseinstellung sind. Und wir sind es, die die Work-Life-Balance als Begriffsmarke geprägt haben und diesen Wert an der Spitze der Bedürfnispyramide etablierten. Eine Spitze übrigens, die wir seither täglich mit Erfolg erklimmen: Sollte einmal ein gehetzter Schaummattenträger verschwitzt an Ihnen «vorbeistressen», ist es vermutlich ein GenX-ler, der sich im Yogastudio auf Knopfdruck zur Tiefenentspannung zwingen wird. 45 Minuten Weltfrieden für knapp 30 Stutz. Soll uns mal einer sagen, wir wüssten nicht, was Effizienz ist!

Supermarktdekoration

Die Boomer setzen hingegen auf die Masse statt auf das Individuum. Dadurch können sie noch heute bestimmen, in welche Richtung die Welt steuert oder was die Industrie auf den Markt wirft. So war es die einkommensstarke Nachkriegsgeneration, die 1985 erwirkte, dass kohlensäurehaltiges Wasser, Glucose-Fructose-Sirup, 107 Gramm Zucker je Liter, eine unbestimmte Menge Koffein, der Farbstoff E150D, das Säuerungsmittel Phosphorsäure und 1.7 mg Benzaldehyd je Liter zu einem Süssgetränk zusammengemischt wurden, das seither unangetastet in den Supermärkten verstaubt. Wenn Boomer wollen, dass Cherry-Cola-Dosen weltweit als Zierde von Regalwänden dienen, wird die Industrie es für sie möglich machen.

Cherry Cola: Boomer-Regalzierde. (Coca Cola)

Thx, Boomer!

Die Generation X setzt ihre Prioritäten ganz anders: Statt auf Arbeitswahn setzen die Post-Boomer auf ein gesundes Gleichgewicht zwischen Arbeit, Familie und Freizeit. Statt Konsumwut streben sie in einem ersten Schritt Selbstfindung und in einem zweiten Selbstverwirklichung an. Dabei vergessen sie aber allzu gerne, dass sich nur auf sicherem Untergrund gut laufen lässt. Auf einem Untergrund also, den die Generation der zwischen 1946 und 1964 Geborenen gelegt hat. Natürlich haben sie selbst auch davon profitiert, im Blick war aber der Wohlstand der Generation ihrer Kinder und Kindeskinder. Geschaut haben sie durch die Brille und gehandelt haben sie mit den Mitteln der damaligen Zeit – mit all den damit verbundenen Vor- und Nachteilen, wie wir heute wissen.

Sicherheit und/oder Freiheit

Das Bedürfnis nach Gleichgewicht zwischen Pflichten und Rechten entstand also, dank der vorangehenden Generation, ab den späten 70er-Jahren und persistiert noch heute. Es hat aber seither an Differenziertheit gewonnen: Will man etwa der 18. Shell-Jugendstudie Glauben schenken, versuchen die Jugendlichen heute, in einem hochkomplexen Balance-Akt zwischen beruflicher Leistungsorientierung, einem stabilen privaten Netzwerk und der Erfüllung individueller Bedürfnisse zu reüssieren:

«Die Jugendlichen sind […] bereit, sich in hohem Maße an Leistungsnormen zu orientieren, und hegen gleichzeitig den Wunsch nach stabilen sozialen Beziehungen im persönlichen Nahbereich. Sie passen sich auf der individuellen Suche nach einem gesicherten und eigenständigen Platz in der Gesellschaft den Gegebenheiten so an, dass sie Chancen, die sich auftun, möglichst gut ergreifen können. Mehr als bislang legen viele Jugendliche inzwischen Wert auf eine deutlich bewusstere Lebensführung, ihre Ansprüche an eine nachhaltige Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft artikulieren sie deutlich und vernehmbar.»

Die Herausforderung dieser Lebenshaltung besteht darin, das adäquate Mass zwischen sozialer Sicherheit und individueller Freiheit zu finden. Ziel scheint gewissermassen das Schaffen eines starken Ichs – nicht mittels der Abgrenzung vom Wir, sondern mittels Abgrenzung im Wir. Als Sprössling der Generation X merke ich allein beim Umschreiben dieses Lebensgefühls, wie schwierig es mir fällt, zu begreifen, dass man sich nicht von der Masse, sondern in der Masse abheben könnte.

Bildung und Leidenschaft im Gleichgewicht

Egal, wie gut sich mein Mentos-Lebensgefühl der 1990er durch die Verblendung dreier Jahrzehnte auch anfühlen mag: Der Wertekanon der Generation Z scheint mir unbedingt erstrebenswert zu sein. Allerdings ruft dieses Fazit wiederum die vor der Jahrtausendwende Geborenen auf den Plan – und in die Pflicht. Es sind jene, die das Konzept der Work-Life-Balance ersonnen haben, die nun für dessen Umsetzung sorgen müssen. Und zwar nicht nur bei der eigenen Generation!

Balance fördert Talent und Engagement. (Isabelle Rogger)

Balance – mehr als Talentförderung

Das Förderprogramm der Kantonsschule Kreuzlingen versucht hierzu einen Beitrag zu leisten. Balance geht von der Prämisse aus, dass unsere Bildungsziele, wie sie von Artikel 5 der Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen von 1995 vorgeschrieben werden, erst recht und noch umfassender erfüllt werden können, wenn auch ausserschulische Engagements neben der schulischen Bildung genug Zeit und Raum einnehmen dürfen.

Balance mag vordergründig ein Talentförderungsprogramm sein, wie es mittlerweile alle Mittelschulen kennen, geht aber faktisch einen Schritt weiter. Hierzu ein Beispiel: Gemäss der Fachstelle für Vereine zählt die Schweiz rund 100’000 Vereine, wobei sich 44% der Wohnbevölkerung als Aktivmitglieder darin beteiligen (Quelle: Bundesamt für Statistik). Genau dies ist einer der Punkte, an dem unser Programm zur Förderung von Talent und Engagement mitunter ansetzt.

Bildungsziel im Flutlicht

Talent zu fördern bedeutet, die Fussballspielerin im Flutlicht des Fussballplatzes dabei zu unterstützen, Karriere machen zu können. Engagement fördern heisst wiederum, das Vorstandsmitglied hinter den Kulissen dabei zu unterstützen, dass überhaupt Flutlicht den Fussballplatz erhellt. Wir möchten also nicht nur jene Schülerinnen und Schüler unterstützen, die ein besonderes Talent haben, sondern auch all jene, die sich besonders engagieren – für sich und andere. Denn mit ausserschulischen Engagements beweisen diese Schülerinnen und Schüler, was Absatz 4 des oben erwähnten Bildungsartikels fordert: Die «Maturandinnen und Maturanden […] sind bereit, Verantwortung gegenüber sich selbst, den Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur wahrzunehmen.»

Wir als Schule haben demnach die Pflicht, dazu beizutragen, dass ebendiese talentierten und/oder engagierten Jugendlichen ihre schulische und ausserschulische Bildung ins Gleichgewicht bringen können. Alles andere wäre eine verpasste Chance – zum Nachteil aller Generationen.

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