Potential neben der Spur

Potential neben der Spur

Die Thurgauische Konferenz der Mittelschullehrpersonen (TKMS) hat die beiden Entwicklungsstörungen Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) ins Zentrum ihrer diesjährigen Tagung gerückt und so die Herausforderungen, die mit diesen Erkrankungen einhergehen, betont. Dr. Olga Meier-Popa, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizer Zentrum für Sonder- und Heilpädagogik, hat in ihrem Vortrag über den Umgang mit ASS und ADHS an Mittelschulen gesprochen.

Carina Lukosch

Mit einem Video der Tower-Kommunikation des New Yorker Flughafens begrüsst Dr. Marcello Indino die Tagungsgäste an der KSK und schlägt damit einen Bogen zu Schülerinnen und Schülern mit ADHS und/oder ASS, denen es schwerfällt, den (Schul-)Alltag zu meistern. Beide Erkrankungen stellen nicht zuletzt auch an das Lehrpersonal der Mittelschulen besondere Aufgaben; als eine Lösung im Umgang mit Beeinträchtigten plädiert der Rektor der KSK für Binnendifferenzierung.

Als Referentin zum Thema hat Olga Meier-Popa gesprochen. Sie ist seit 2013 im Bereich der Sonderpädagogik tätig. Neben der Leitung der Fachstelle Studium und Behinderung der UZH ist sie für die Ausbildung von Fachpersonal sowie für Fragen zur Barrierefreiheit, zu nachobligatorischer Bildung und zum Nachteilsausgleich zuständig. Die Teenagerzeit sei, so Meier-Popa, für viele Jugendliche besonders herausfordernd, da es eine Phase der Entscheidungen ist: Bildungsübergänge müssen gestaltet werden und nicht nur der Körper verändere sich, sondern auch die kognitiven Fähigkeiten und die Emotionen. ASS ist eine neuronale Entwicklungsstörung im Bereich der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Junge Menschen, die unter dieser Störung leiden, zeigen oft eine besonders detaillierte Wahrnehmung und geringe Anpassungsfähigkeit. Sie lassen sich schnell von kleinen Veränderungen ablenken und können nur schwer Wichtiges von Unwichtigem trennen. Stress wird durch alles Unvorhersehbare und Ungewisse, wie etwa neue Situationen, soziale Interaktionen oder Unklarheiten, erzeugt. Statische Bereiche hingegen tragen dazu bei, ein Gefühl von Kompetenz zu vermitteln. Bekannte Situationen können Betroffene gut meistern. Zu ihren Stärken gehören beispielsweise Gründlichkeit, die Fähigkeit zu Analyse und Konzentration sowie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Qualitätsbewusstsein und autodidaktische Fähigkeiten.

Lernende mit ADHS leiden unter Unaufmerksamkeit (Kernsymptom), Impulsivität (teilweise) und Hyperaktivität oder Hypoaktivität. Begleiterscheinungen können depressive Störungen, Angst-Symptomatiken oder Suchterkrankungen sein und Betroffene leiden zum Teil auch unter Dyslexie und/oder Dyskalkulie. Kinder und Jugendliche mit ADHS haben häufig besondere Fähigkeiten im Bereich der Fantasie. Sie sind äusserst kreativ, einfühlsam und sensibel, zeichnen sich durch einen ausgeprägten Ideenreichtum, Ehrlichkeit, Einsatz- und Hilfsbereitschaft sowie Begeisterungsfähigkeit aus.

Alan de la Cruz, unsplash
Wenn man den Dreh raus hat, geht es fast wie von selbst. (Alan de la Cruz, unsplash)

Für beide Betroffenengruppen stellt der Schulalltag eine weitaus grössere Herausforderung dar als für Nichtbetroffene: Wie können Mittelschulen die schulische Lernumgebung noch mehr auf die Bedürfnisse anpassen? Meier-Popa stellt verschiedene Möglichkeiten aus ihrer Arbeit vor. Beispielsweise habe sie für Studierende extra Sitzplätze in Hörsälen reserviert oder Rückzugsmöglichkeiten geschaffen. Das Ermöglichen von zusätzlicher Zeit sei ebenfalls besonders hilfreich – nicht, weil Erkrankte langsam seien, sondern weil Zeit für Erholungsphasen genutzt werden könne, die die Betroffenen dringend benötigten. Bei allen Unterstützungsangeboten seien Massnahmen vorzuziehen, die allen Jugendlichen zugute kommen, wie etwa eindeutiges Kommunizieren, Regeln, die für alle gelten, strukturierter Unterricht und klar gestaltete Arbeitsblätter, das Schaffen von Erholungsphasen sowie Rückzugsmöglichkeiten; sie beruft sich damit auf das «Response-to-intervention-Modell».

Betroffene bewegen sich zum Teil ausserhalb einer Spur. Vielleicht sind Menschen mit Entwicklungsstörungen gar nicht «neben der Spur», sondern vielleicht ist auch die Spur zu eng, so dass ein Blick auf das Potential die Spur weiten kann.

Für weitere Informationen:

https://www.zemces.ch/de/wissen-und-netzwerk/netzwerkgruppen/nachteilsausgleich
https://www.szh.ch/de/projekte/projektauftraege/informationsblaetter-fuer-lehrpersonen

https://www.zh.ch/content/dam/zhweb/bilder-dokumente/footer/arbeiten-fuer-den-kanton/personalamt/berufsbildung-mit-perspektive/Neurodiversitaet_Final_A4_ZH.pdf

https://www.szh.ch/de/themen/nachteilsausgleich/literatur

https://www.autismus.ch/ads.html

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