Frustration oder sogar Aggression – auch das kann eine Reaktion auf den Schulalltag sein. Aggression ist der freie Fall von einer Klippe. Frustration hingegen ist der Balanceakt, noch bevor man stürzt. Gibt es Auswege?
Marcello Indino
Die allermeisten Menschen im schulischen und privaten Umfeld habe ich als friedliebend kennenlernen dürfen. Klar, ein paar von ihnen können auch ganz schön zickig werden, während andere manchmal übertrieben harmoniesüchtig sind – beides kann einem gleichermassen den Tag vermiesen. Aber die allermeisten können auch mal die Fünfe gerade sein lassen, wenn es hilft eine Situation nicht zur Eskalation zu führen. Also das kleine Ich und das kleine Mir zugunsten des grossen Wir und des grossen Uns mal kurz auf Pause zu stellen. Ich – so schätze ich – übrigens auch – zumindest in den allermeisten Fällen. Denn vermutlich können wir alle in bestimmten Momenten so richtig abdrehen, uns nicht mehr spüren, es mit uns durchgehen lassen – egal wie friedliebend wir in den allermeisten Fällen sind.
Zwei amerikanische Psychologen haben dieses Phänomen Ende der 1940er – Jahren (nicht gerade eine friedliche Zeit, übrigens) mit der Frustrations-Aggressions-Hypothese zu erklären versucht. Aggression sei jeweils nicht die erste Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis, sondern entstehe erst, wenn dieses Ereignis Frustration ausgelöst habe. Frustration baut sich wiederum auf, wenn man die eigenen Ziele nicht erreichen kann. Und zwar unabhängig davon, ob man sich selbst daran hindert oder von aussen daran gehindert wird.
Nun gut, welchen Unterschied macht es denn, ob ich wegen einer Situation direkt aggressiv werde oder mich diese Situation zuerst frustriert, bevor sie mich aggressiv macht? Wenn Sie mich fragen, einen fundamentalen! Aggression ist eine unmittelbar handlungsrelevante Emotion. Es ist ein Zustand, der uns dazu bewegt etwas zu tun – irgendetwas, bloss damit das unangenehme Gefühl wieder nachlässt. Vielleicht sogar etwas, das mit der Ursache der Emotion nichts zu tun hat. Haben Sie etwa schon mal eine Tür zugeschlagen, weil Sie jemand genervt hat? – Eben!
Aggression ist der freie Fall von einer Klippe. Frustration hingegen ist der Balanceakt, noch bevor man stürzt. Es ist der kurze Augenblick, in dem man zumindest die Ursache des eigenen Zustandes noch im Blick haben kann, bevor man ungebremst nach unten rauscht. Man hat die Klinke gewissermassen schon in der Hand, aber die Tür steht noch offen. Ein geeigneter Moment also, um den Faktor zu analysieren, der die Situation ausgelöst hat – das nicht erreichte Ziel. War es denn überhaupt realistisch gesetzt? Wurde es tatsächlich konsequent verfolgt? Wurde man von aussen an der Zielerfüllung gehindert oder stand man sich eher selbst im Wege?
Schulen können ein ganzes Biotop nichterfüllter Ziele sein, regelrechte Treibhäuser sogar. Beispiele kennen Sie sicher mehr als genug. So kennt etwa das Schweizer Notensystem, vermutlich als eines der wenigen weltweit, mehr ungenügende als genügende Noten. Dass also Raten statistisch gesehen in einer Prüfung nicht hilft, ist frustrierend – irgendwie. Und der Stundenplan muss 350 Schülerinnen und Schülern, annähernd 40 Lehrpersonen, mehr als einem Dutzend Fächern und beschränkten Raumverhältnissen gerecht werden. Und so ist diese seltsame Freistunde am Dienstagmorgen jede Woche aufs Neue frustrierend – irgendwie.
Ganz ehrlich… Am Notensystem werden wir vor Abschluss Ihrer Matura nichts mehr ändern können. Und drei freie Nachmittage in jeder Klasse, bei mehr als 35 Lektionen die Woche, kriegen wir auch nicht hin. Übrigens werden wir es auch nicht schaffen, Ihr Recht auf Bildung mit der Hälfte an Lektionen zu erfüllen. Diese letzte Option fällt also leider auch weg. Alles frustrierend – irgendwie.
Wenn wir also die Spielregeln nicht ändern können, auf die wir uns alle eingelassen haben, so doch das Spielfeld, auf dem wir uns gemeinsam bewegen. Manchmal sind es die kleinen Gesten, die die grössten Würfe mit sich führen. Wir sind aber darauf angewiesen, dass Sie Bedürfnisse, Anliegen, Wünsche, Vorschläge – und vielleicht auch Visionen – offen kommunizieren, solange Sie die Türklinke noch in der Hand halten. Und nicht erst nach der Matura, wenn die Türe im Guten oder im Schlechten schon geschlossen wurde.
Suchen Sie in einer Klassenstunde das Gespräch mit Ihrer Klassenlehrperson. Sprechen Sie eine Vertrauenslehrperson auf das an, was Sie beschäftigt. Wenden Sie sich an die Schüler- und Schülerinnenorganisation. Ergreifen Sie während einer Parlamentssitzung das Wort. Gehen Sie auf eines der Schulleitungsmitglieder zu. Wählen Sie den Kanal, der Ihnen am geeignetsten erscheint und Ihnen am meisten zusagt: So oder so, lassen Sie es raus!